Der amerikanische Historiker Jerry Z. Muller hat die Lebensgeschichte des umstrittenen Hochschullehrers Jacob Taubes (1923–1987) fast 20 Jahre lang wie ein Detektiv erforscht. Jetzt ist seine Biografie Professor der Apokalypse von Ursula Kömen ins Deutsche übersetzt worden. Der Untertitel lautet: »Die vielen Leben des Jacob Taubes«.
Gemeint ist mehr als nur die Tatsache, dass Taubes posthum einen Rang erlangte, den am Tag seiner Beerdigung nur wenige für möglich gehalten hätten. Ebenfalls angedeutet ist, dass Taubes ein sehr abwechslungsreiches Leben geführt hat. Dies gilt sowohl für die berufliche Karriere als auch für zwei turbulente Ehen und zahlreiche Liebesbeziehungen.
studium Als Sohn eines orthodoxen Rabbiners wurde Taubes am 25. Februar 1923 geboren und wuchs in Zürich auf. Nach dem Abitur studierte er an den Universitäten Zürich und Basel Philosophie, Geschichte, Soziologie und Religionswissenschaften.
Seine Talmudstudien setzte Taubes in der Jeschiwa von Montreux fort. 1946 wurde er promoviert und von zwei angesehenen Rabbinern ordiniert. Allerdings hat Taubes nie von dieser Ordination Gebrauch gemacht. Er wollte nicht als Gemeinderabbiner wirken, sondern an einer Hochschule lehren, und das ist ihm auch gelungen.
Taubes lehrte an der Hebräischen Universität in Jerusalem sowie an führenden amerikanischen Hochschulen (Harvard, Princeton und Columbia). Am Ende wirkte Taubes an der Freien Universität in Berlin, wo er das erste Institut für Judaistik an einer deutschen Universität aufbaute. Zugleich leitete er dort das Institut für Hermeneutik.
erfolg Der berufliche Erfolg ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Taubes außer seiner Doktorarbeit, Abendländische Eschatologie, keine einzige eigenständige Publikation veröffentlicht hat. Der Philosoph Theodor Adorno bemerkte: »Sicherlich ist Taubes ein zugleich hochbegabter und in seiner Produktivität schwer gestörter Mensch, und diese Konstellation hinterlässt erhebliche charakterologische Narben.« Seine rasche Auffassungsgabe wurde gerühmt und auch sein gutes Gedächtnis.
Nachgesagt wurde ihm allerdings mangelnde Seriosität. Einmal prahlte er mit seinem Wissen über den Scholastiker Bertram von Hildesheim, der in Wirklichkeit nie existiert hat.
Das Wohlwollen seines Lehrers Gershom Scholem aus Jerusalem hat Taubes sich verscherzt. Überliefert ist folgende Begebenheit: Der Kabbalaforscher Scholem war zu Gast bei Freunden in Paris, und als Taubes plötzlich dazukam, sperrte Scholem sich im Badezimmer ein und war erst dann bereit herauszukommen, als Taubes die Wohnung verlassen hatte.
ESKAPADEN Man könnte manche von Taubes’ Eskapaden als kindisch abtun, hätten seine Grenzüberschreitungen nicht einen ernsten Hintergrund. Viele seiner ungewöhnlichen Handlungen sind nur dann zu verstehen, wenn man die abrupte Abwendung von den Lebensformen des gesetzestreuen Judentums in Betracht zieht und die damit verbundene Hinwendung zum Antinomismus, das heißt die absichtliche Missachtung der religiösen Gesetze. Stolz bekannte Taubes: »Ich bin ein Antinomist!«
Als Antinomisten werden Anhänger einer christlichen Lehre bezeichnet, laut der die Gesetze der Tora überholt seien. Diese weltanschauliche Position ermöglichte es ihm, wohlbekannte halachische Vorschriften zu übertreten (wie das im Dekalog stehende Verbot des Ehebruchs). Sein großes Vorbild in der Religionsgeschichte war der Apostel Paulus, dessen Antinomismus Taubes interpretiert hat und modernisieren wollte.
Im Gegensatz zu vielen anderen Juden, die die Orthodoxie aus diesem oder jenem Grund verlassen haben, war Taubes (zumindest gegen Ende seines Lebens) davon überzeugt, dass er nach seinem Tod für die begangenen Sünden Rechenschaft abzulegen haben werde. Als er die Buchhändlerin Rachel Salamander kennenlernte, erzählte er ihr von seinem frommen Vater. Dann fügte er hinzu: »Ich bin vom richtigen Weg abgekommen!« und brach in Schluchzen aus.
STÖRUNG Zweifellos war Jacob Taubes eine exzentrische Persönlichkeit, die körperlich und seelisch schwer gelitten hat. Laut seinem Biografen litt er unter einer bipolaren Störung. Für manche war er ein genialer Denker, für andere ein Hochstapler. In jedem Fall war Taubes ein außerordentlich kontaktfreudiger Mann, der mit vielen berühmten Wissenschaftlern und Künstlern befreundet war.
Die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag hat ihn gut gekannt und in einem ihrer Filme porträtiert. Seine erste Ehefrau, Susan Taubes, hat ihren Ex-Mann im Roman Nach Amerika und zurück im Sarg beschrieben. Die von Jerry Z. Muller ausgebreitete und sorgfältig analysierte Geschichte gewährt Einblicke in das akademische Leben im 20. Jahrhundert und zeigt auch, wohin moderner Antinomismus führen kann.
Jerry Z. Muller: »Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob Taubes«. Jüdischer Verlag, Berlin 2022, 928 S., 58 €