Während ich diese Zeilen in Ramat Gan schreibe, befindet sich Israel immer noch mitten in einem langwierigen Konflikt. Das Ende des dunklen Tunnels ist noch nicht in Sicht. Aber überall gibt es Lichtblicke, aus denen das jüdische Volk viel Zuversicht und Kraft schöpfen kann. Mir geben in diesen Zeiten all die jüdischen Helden Hoffnung, die mir täglich begegnen. Nach zutiefst tragischen Ereignissen wie dem 7. Oktober 2023 erhält für mich dieser Begriff, die Idee des Heldentums, eine neue Bedeutung und verbindet alte jüdische Traditionen mit den heutigen Herausforderungen.
In der jahrhundertealten jüdischen Tradition ist Heldentum eng mit der höheren Berufung im Leben und dem Kampf um die eigene Identität des jüdischen Volkes verbunden. Heldentum manifestierte sich oft in kleinen Details, die enorme Unterschiede bewirkten. Und wie immer in der jüdischen Geschichte spielten jüdische Frauen dabei eine absolute Hauptrolle, auch wenn wenig über sie zu hören ist.
Esther, die ohne Erlaubnis den Thronsaal von König Achaschwerosch betritt und die Todesstrafe riskiert, um ihr Volk aus den Fängen Hamans zu retten, ist vielleicht die berühmteste Heldin in der jüdischen Geschichte. Aber auch die außergewöhnlich schöne Judith, die Tochter des Hohepriesters Jochanan, spielt zu Chanukka die Hauptrolle, denn es gelang ihr mit einer List, einen General der syrischen Hellenisten zu enthaupten und so die Juden vor dem sicheren Tod zu bewahren.
Gʼttes besonderer Bund mit dem jüdischen Volk
Nachdem das jüdische Volk Gʼtt in Ägypten und am Berg Sinai, wo es die Zehn Gebote erhielt, erkannt hatte, wurde ihm eine Art religiöse Weltrolle zugewiesen. Gʼtt hat einen besonderen Bund mit dem jüdischen Volk geschlossen: »Ihr seid meine Zeugen, spricht Gʼtt, und mein Diener, den Ich erwählt habe« (Jesaja 43,10). Die Juden sollen fortan die gʼttliche Absicht in der Schöpfung erfahren und zum Ausdruck bringen. Die Erfüllung dieser Mission erfordert ein Heldentum, nach dem schon die Erzväter Awraham, Jizchak und Jakow lebten.
Awraham zum Beispiel musste wegen seines Monotheismus mit enormem Widerstand der hedonistischen, heidnischen Weltbevölkerung rechnen, blieb aber seinem Glauben an die Einheit Gʼttes treu. Wegen seiner Überzeugung wurde er von Nimrod in den Feuerofen geworfen. Mosche wiederum trotzt dem grausamsten Pharao der jüdischen Geschichte.
Im Laufe der Geschichte gab es mutige Einzelne, die das jüdische Volk verteidigten.
Aber auch während der ägyptischen Sklaverei sind es wieder die Frauen, die zu großen Heldinnen werden. Der Pharao hat solche Angst vor dem Fremden in seiner Mitte, dass er den Hebammen der Juden, Schifra und Pua, befiehlt, alle jüdischen Knaben bei der Geburt sofort zu töten. Sie weigern sich, seine Befehle auszuführen. Der Mut dieser Frauen angesichts des mächtigsten, völkermörderischen Potentaten der Antike ist nur schwer zu begreifen.
Wir sehen im Laufe der Geschichte, dass das moralische Niveau, die Ausdauer und die Überlebensfähigkeit des jüdischen Volkes von einer höheren Absicht zeugen. Dabei gilt es aber, nicht hochmütig zu werden: »Nicht weil du größer warst als alle Nationen, hat Gʼtt dich geliebt und erwählt«, heißt es im 5. Buch Mose.
Die biblische Perspektive
Ein Held wird man nicht durch ein aufgeplustertes Ego, es kommt viel mehr darauf an, völlige Hingabe an seinen Auftrag und eine äußerst idealistische Einstellung zu haben. Außerdem sollte ein jüdischer Held eine tiefe Abneigung gegen Unwahrheit und Ungerechtigkeit pflegen. So begann schon Awraham seine Lebensaufgabe. Und letztlich muss ein jüdischer Held zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein.
Die biblische Perspektive zeigt, dass Heldentum oft in unerwarteten Krisenmomenten entsteht. Das ist in modernen Zeiten nicht anders, denn es handelt sich hier um zeitlose Prinzipien. Ein Held schöpft in diesen Krisen aus dem Kern seiner Persönlichkeit, improvisiert aus seiner Überzeugung, folgt seinen Gefühlen und akzeptiert die gegebenen Unsicherheiten, weil niemand den Ausgang und die Wirkung seiner Heldentaten vorhersagen kann.
Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat das jüdische Volk verheerende Krisenmomente erlebt und musste mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Übermacht der Mehrheit kämpfen. Es hat Ägypten und den Pharao überlebt. Die Macht der Römer und ihre Grausamkeit. Die Inquisition in Spanien und die Pogrome in Russland. Hitler, die Nazis und den Holocaust. Das jüdische Volk hat in Israel die Armeen von sieben arabischen Ländern, von Nasser und Saddam, überlebt. Auch heute werden wir mit Gʼttes Hilfe unsere Feinde überleben.
Am Ende haben die Juden ihre Unterdrücker jedes Mal überlebt
Während all dieser Momente gab es mutige Individuen, die das jüdische Volk verteidigten. Und am Ende haben die Juden ihre Unterdrücker jedes Mal überlebt! »Er schläft und schlummert nicht, der Hüter Israels« – HaSchem, der Gʼtt von Awraham, Jizchak und Jakow, behütet unsere Helden bis heute.
In den Pirkej Awot, den Sprüchen der Väter (ein Buch voller Weisheit), steht geschrieben: »Ben Zoma sagt: Wer ist ein Held? Wer in der Lage ist, sich selbst zu beherrschen.« Ein Held muss in der Lage sein, sich über den eigenen Egoismus, die Einbildung und die Egozentrik zu erheben und die Interessen anderer und des »Ganzen« im Leben an die erste Stelle zu setzen. Und das erfordert viel Selbstbeherrschung, Idealismus und das Wissen, wofür man steht. Man stellt sich selbst hinten an, um dem Volk Israel zu dienen.
Selbstbeherrschung, Idealismus und das Wissen
Genau das erleben wir gerade hier in Israel, wo ich heute wohne, aber auch weltweit. Nach einer langen Zeit innerer Konflikte ist das jüdische Volk im Kampf gegen Antisemitismus und Antizionismus wieder vereint. Ich habe persönlich gesehen, wie Menschen tagelang, wochenlang und monatelang alles aufgegeben haben, um anderen zu helfen und sie zu retten. Frauen, deren Ehemänner zur Armee einberufen wurden, zogen allein große Familien auf und machten trotz aller Ängste, finanzieller Probleme und Bedrohungen weiter, weil sie erkannten, dass Gʼtt mit den Juden ist und das jüdische Leben über allem anderen steht.
Für mich ist dies eine Fortsetzung des Heldentums kurz nach der Schoa. Viele kennen die Geschichten über die unvorstellbare Reise von Holocaust-Überlebenden und Flüchtlingen, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg verließen. Ich kenne diese Menschen persönlich: Mit dem Mut der Verzweiflung, ohne Ressourcen und schwer traumatisiert haben es die meisten von ihnen geschafft, ein neues und positives Leben aufzubauen, und jüdische Gemeinden gegründet – ob in Israel oder anderswo auf der Welt.
»Wer ist ein Held? Der in der Lage ist, sich selbst zu beherrschen.«
Pirkej Awot
Woran wir uns auf unserer Heldenreise immer wieder erinnern müssen, ist, dass wir in erster Linie Juden sind, und dass wir nicht versuchen sollten, die Lebensweise der Menschen um uns herum nachzuahmen. Ich denke an die weisen Worte des Propheten Hesekiel (20,32), der sagt: »Was in euren Gedanken ist, wird niemals wahr werden: ›Lasst uns sein wie die Nationen, wie die Stämme der Länder.‹«
Das jüdische Volk geht zugrunde, wenn es seine Einzigartigkeit vergisst und sich weigert, seine Rolle als Zeuge Gʼttes durch Moral und Einhaltung der Tora einzunehmen. Es muss sich seiner höchsten Berufung als Leuchtturm und Vorbild für andere bewusst werden. Genau darin liegt seine Stärke. Als Volk wurden und werden wir immer wieder von unserer Umwelt herausgefordert. Gerade in Zeiten existenzieller Bedrohung sollten wir uns davon inspirieren lassen.
Heldenverehrung wie bei den Griechen oder im Mittelalter - Fehlanzeige
Das jüdische Volk kennt keine Heldenverehrung wie in den mittelalterlichen Ritterromanen oder wie in den griechischen Göttergeschichten. Die Helden des jüdischen Volkes sind spirituelle Überflieger, die ein großes Wissen über das Gʼttliche mit einer sehr menschlichen und »gebenden« Haltung verbinden.
Man ist nur dann ein jüdischer Held, wenn man lieber gibt als nimmt und alle um sich herum an seinem Wissen, seinen Gaben, seiner Liebe, seinen guten Eigenschaften oder Besitztümern teilhaben lässt.
Die Helden des jüdischen Volkes sind Menschen, die sich über ihre kleinlichen Interessen, schwierigen Umstände, ihre Selbstgefälligkeit oder ihre Selbstvorstellung erhoben haben. Und es erfüllt mich mit Stolz, dass ich dies in diesen turbulenten Zeiten täglich selbst erleben darf.
Der Autor ist Rabbiner und lebt in Israel.