Schawuot

Von der Freiheit, wir selbst zu sein

Auch heute wird rund um Schawuot in Israel der erste Weizen geerntet. In vielen Kibbuzim ist es der jährliche Höhepunkt des Gemeindelebens. Foto: Flash 90

Selbstbestimmung ist für die moderne Gesellschaft ein Wert von äußerst hoher Bedeutung. Wir sind überzeugt, dass jeder Einzelne frei sein sollte, sein eigenes Schicksal wählen zu können und seinen Lebensweg selbst zu gestalten. Und doch werden wir in der gleichen Gesellschaft von allen möglichen anderen Interessen als den eigenen geleitet.

Im vergangenen Jahr wurden weltweit fast 733 Milliarden US-Dollar für Werbung ausgegeben. Sie weckt in uns Bedürfnisse, von denen wir noch gar nichts wussten, appelliert an unsere Gefühle, lässt Sehnsüchte entstehen.

Entscheidungen unter den Einflüssen anderer

Aber nicht nur beim Geldausgeben treffen wir unsere Entscheidungen unter den Einflüssen anderer. Die Macht traditioneller und neuer Medien bei der Bildung der eigenen Meinung ist gut erforscht. Eine kleine Gruppe von Menschen kann die Ansichten vieler verändern, indem sie auswählt, welche Geschichten hervorgehoben und welche verschwiegen werden. Im Zeitalter des Internets beeinflussen uns Bilder, die perfekt gefälscht sein können. Wir lesen Geschichten, die in uns emotionale Reaktionen hervorrufen, obwohl sie frei erfunden sein könnten. Was also meinen wir, wenn wir von der eigenen Meinung sprechen? Woher weiß der Einzelne, was er wirklich will? Was ist das »Selbst« in der Selbstbestimmung?

Eine ganz eigene Antwort liefert Schawuot. Dabei feiern wir, dass Gʼtt dem jüdischen Volk die Tora gab. Die Hebräer verließen Ägypten am ersten Tag des Pessachfestes. Sieben Wochen später erhielten sie die Tora auf dem Berg Sinai.

Der Name des Festes, »Schawuot«, bedeutet wörtlich übersetzt »Wochen«. Dieser Name mag zunächst rätselhaft erscheinen. Der jüdische Kalender kennt drei Wallfahrtsfeste: Pessach, Schawuot und Sukkot. Von diesen drei Festen ist Schawuot jedoch das einzige, das nicht eine ganze Woche dauert.

Doch abgesehen von der Dauer unterscheiden sich die Wallfahrtsfeste noch in anderer Hinsicht: Pessach und Sukkot sind in der Tora mit einem eindeutigen Kalenderdatum versehen – dem 15. Tag der hebräischen Monate Nissan beziehungsweise Tischri –, während Schawuot überhaupt kein Datum zugewiesen wird. Stattdessen wird es durch das Zählen von sieben Wochen oder 49 Tagen ab dem zweiten Tag von Pessach bestimmt. Diese Zählung, bekannt als Sefirat HaOmer, die Omer-Zählung, führt uns zu Schawuot am Tag 50. Mit dieser Formel verbindet die Tora Pessach mit Schawuot. Sie scheint einen Prozess zu markieren, der mit dem Auszug aus Ägypten beginnt und erst sieben Wochen später mit dem Empfangen der Tora endet.

Dies könnte der Grund für den verwirrenden Namen sein: Schawuot, »das Fest der Wochen«, ist der Höhepunkt der sieben Wochen von Sefirat HaOmer. Aber warum hebt die Tora diese Verbindung hervor?

Während der Omer-Zeit reift der Weizen – aber auch wir müssen uns erst auf Schawuot vorbereiten.

Zu Zeiten des Tempels begann der Omer an Pessach mit einem Gerstenmehlopfer. Es war der einzige Zeitpunkt im Jahr, zu dem dieses Getreide im Tempel verbrannt wurde. 50 Tage später, an Schawuot, wurde dann ein Opfer aus Weizenmehl dargebracht. In der Antike wurde Gerste als Tierfutter betrachtet, während Weizen ein Grundnahrungsmittel für den menschlichen Verzehr war. Die Omer-Zeit mit einem Gerstenopfer zu beginnen und mit einem Weizenopfer zu beenden, bedeutet also den Aufstieg vom rein animalischen Bedürfnis zur Verwirklichung unseres menschlichen Potenzials.

Unterdrückt und niedergeschlagen

Als das jüdische Volk Ägypten verließ, war es unterdrückt und niedergeschlagen. Die harten Bedingungen, die es ertragen musste, und die geistige Degradierung, in die es geraten war, bedeuteten, dass es zwar physisch befreit war, aber die Perversion und Niedertracht der ägyptischen Kultur hatten ihre Narben hinterlassen. Der einzigartige Charakter, die Sensibilität und die Verfeinerung des Geistes, die das jüdische Volk erlangen sollte, waren in ihm noch nicht entwickelt.

Es dauerte sieben Wochen, bis das jüdische Volk die geistigen Höhen erreichte, um am Berg Sinai zu stehen und die Tora zu empfangen. Der Übergang von der Darbringung der »tierischen Nahrung« zur verfeinerten »menschlichen Nahrung«, die 50 Tage später geopfert wurde, symbolisiert diesen Prozess des geistigen Wachstums.

Im klassischen jüdischen Denken ist der Mensch ein Geschöpf aus polaren Gegensätzen, aus zwei miteinander verschmolzenen Extremen. Biologisch gesehen, weist das menschliche Gehirn Elemente des Tiergehirns auf. Viele unserer grundlegenden Instinkte, wie zum Beispiel die Kampf- oder Flucht-Reaktion, funktionieren im Wesentlichen wie bei Tieren und erfolgen ohne jegliches Grübeln. Unser Körper hat physische Bedürfnisse und wird von physischem und manchmal animalischem Verlangen angetrieben.

Auf der anderen Seite hat der Mensch eine reine Seele, ein Element der Gʼttlichkeit, das in jedem von uns zu finden ist. Diese Elemente koexistieren auf wundersame Weise in uns, wenn auch nicht ohne Spannung und Kampf. Ein und dieselbe Person kann manchmal gütig, wohlwollend und liebevoll sein und manchmal grausam, egoistisch und boshaft. Wir haben verschiedene Kräfte in uns, eine ganze Palette von Gedanken, Gefühlen und Trieben. Und wir haben die Möglichkeit zu wählen, welche wir zu zähmen versuchen und welche wir dominieren lassen wollen.

Was man tun kann und was nicht

Das Gesetz der Tora wird oft als einschränkend und begrenzend empfunden. Es schreibt vor, was man tun kann und was nicht, wie man seine Zeit verbringen sollte, wohin man gehen muss und wohin man nicht gehen darf. Es regelt den Tagesablauf, die Ernährung, zwischenmenschliche Beziehungen und wirkt sich auf jeden Aspekt des Lebens aus.

In der Tat bezieht sich Gʼtt selbst auf diese Weise auf seine eigenen Tora-Gesetze und beansprucht de facto das jüdische Volk als seinen »Diener«, weil er es aus der ägyptischen Knechtschaft befreit hat (3. Buch Mose 25,55). Umgekehrt ist Schawuot jedoch der Höhepunkt des Befreiungsprozesses, der mit der physischen Befreiung an Pessach beginnt und erst mit der Übergabe der Tora an Schawuot endet. Die Mischna (Awot 6,6) lehrt, dass wahre Freiheit nur durch das Torastudium erreicht wird.

Der Empfang der Tora am Berg Sinai markiert den Höhepunkt eines Befreiungsprozesses.

Die Auflösung dieses Paradoxons liegt im inneren Konflikt, dem menschlichen Zustand, in dem sich Gʼttliches und Animalisches in einem befinden. Wenn die primitiven Bedürfnisse des Menschen unkontrolliert gelassen werden, können sie schnell unsere Entscheidungsfindung dominieren.

Unsere einzigartige Fähigkeit, Gefühle, Gedanken und Handlungen zu verknüpfen, bedeutet auch, dass unsere niederen Wünsche uns dazu bringen können, ausgeklügelte kognitive Rationalisierungen und Rechtfertigungen für unser Handeln zu bilden. Ein Drogensüchtiger kann seinen Drogenkonsum rechtfertigen, und ein verurteilter Verbrecher kann sich innerlich von seiner Schuld freisprechen, indem er zum Beispiel die Verantwortung auf andere abwälzt. Wir kämpfen mit kognitiver Dissonanz, und wir können diesen Kampf entweder dadurch lösen, dass wir uns selbst in die Irre führen oder indem wir unsere wahren Beweggründe erkennen.

Dies ist die Bedeutung des Übergangs von der Gerste, die als Tierfutter dargebracht wird, zur Weizengabe, der prototypischen menschlichen Nahrung. Die Opfergaben symbolisieren unsere Erkenntnis der primitiven Elemente in uns selbst und die Arbeit, unser inneres Tier zu zähmen, und das Gʼttliche in uns zu entwickeln. Ein Reiter eines wild gewordenen, unkontrollierbaren Pferdes ist erst befreit, wenn er die Kontrolle über das Tier wiedererlangt.

Bewusste Entscheidungen für uns treffen, anstatt andere für uns entscheiden zu lassen

Unsere Freiheit hängt davon ab, ob wir bewusste Entscheidungen für uns treffen, anstatt andere für uns entscheiden zu lassen – sei es die Werbung, soziale Medien, oder unsere eigene Psychologie, die uns ein Schnippchen schlägt.

Die Tora ist Verpflichtung und Privileg, Knechtschaft und Freiheit zugleich. Es geht darum, den eigenen gʼttlichen Teil von uns selbst in den Vordergrund zu stellen und unsere egoistischen und kleinlichen Triebe zu kontrollieren. Wir streben nach einer inneren Größe, die unsere Handlungen bestimmt, anstatt dass unser Verstand von flüchtigen Leidenschaften und falscher Rationalisierung beherrscht wird, während unsere innere Gʼttlichkeit in einer staubigen Ecke unseres Unterbewusstseins vergraben liegt.

Wahre Selbstbestimmung beginnt damit, zu erkennen, wer das wahre Selbst ist. Wir sind nicht einfach ein hochentwickeltes Tier. Der Mensch ist zu unglaublicher Größe fähig – und zu mächtiger Zerstörung. Die sieben Wochen, die mit dem Empfang der Tora ihren Höhepunkt erreichen, sind der Prozess der inneren Emanzipation von der Sklaverei gegenüber der vorherrschenden sozialen Kultur oder gegenüber unseren eigenen egoistischen Trieben. Schawuot markiert das Ende einer Reise von der körperlichen Befreiung zur geistigen Freiheit und verdeutlicht die tiefe Verbindung zwischen Verpflichtung und wahrer Selbstbestimmung. Durch die Tora erlangen wir die Freiheit, unser wahres, gʼttliches Selbst zu sein.

Der Autor ist Programmdirektor und Dozent am Rabbinerseminar zu Berlin.

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