Zwei der 613 Mizwot, die man nach dem Talmud (Makkot 23b) in der Tora finden kann, betreffen den Umgang mit einer Vogelmutter (Hebräisch: Schiluach HaKen).
Es handelt sich um ein Verbot und ein Gebot, die miteinander verknüpft sind: »Wenn du ein Vogelnest findest vor dir auf dem Weg, auf irgendeinem Baum oder auf der Erde, Junge oder Eier, und die Mutter ruht auf den Jungen oder auf den Eiern, sollst du nicht die Mutter auf den Eiern nehmen. Die Mutter sollst du fliegen lassen, die Jungen aber darfst du dir nehmen; damit es dir gut ergeht, und du wirst lange leben« (5. Buch Mose 22, 6–7).
Praxis Obwohl man Schiluach HaKen in unserer Zeit praktizieren kann, haben nicht sehr viele jüdische Männer und Frauen diese Mizwa mindestens einmal ausgeführt. Warum ist dieses Gebot nicht populär? Weil in der Praxis so viele Bedingungen zu beachten sind, dass sich nur selten eine Gelegenheit zur Gebotserfüllung findet. Von Unwissenheit und Unwilligkeit ganz abgesehen.
Bemerkenswert ist, dass unsere Weisen keinen Segensspruch formuliert haben, den jemand vor Schiluach HaKen sagen sollte. Für diese Tatsache gibt Rabbiner Bachja Ben Ascher folgende Begründung: Im Gegensatz zu anderen Geboten muss man sich nicht bemühen, diese Mizwa zu erfüllen. Denn nur in dem Fall sei man verpflichtet, die Vogelmutter fortzuschicken, wenn man die Jungen oder die Eier haben will.
Schiluach HaKen zählt zu jenen Mizwot, die man als Chukim bezeichnet; das sind Tora-Vorschriften, deren Grund nicht bekannt ist (Raschi zu 2. Buch Mose 15,21 und zu 3. Buch Mose 19,19). Allerdings darf man bei Chukim die Frage stellen: Was will uns die Tora durch diese nicht rationale Vorschrift beibringen? Schiluach HaKen hat verschiedene Deutungen erfahren, die allesamt plausibel und lehrreich sind.
Hier sei nur die Interpretation von Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) zitiert: »Habe Achtung vor der Schöpfung, wo sie nicht dir, sondern dem Weltzweck dient. Und trifft sich dir die Gelegenheit, dir einen für deinen Genuss tauglichen Vogel anzueignen, aber du findest ihn in der freien Schöpfung, dem Weltzweck dienend, in dem Augenblick achte in ihm den Schöpfungsdiener; eigne ihn dir nicht in dem Augenblick an, wo er seiner Gattung dient; vielmehr zeige, dass du Macht über ihn hast, und nimm ihn auf, aber auch, dass du ihn achtest – und lasse ihn frei.«
HÖHE Es ist auffällig, dass die Tora für die Erfüllung der Mizwa von Schiluach HaKen eine Belohnung verspricht: »damit es dir gut ergeht, und du wirst lange leben«. Raschi (1040–1105) geht in seinem Kommentar zu diesem Vers auf die Frage ein, warum die Tora gerade bei Schiluach HaKen einen Lohn erwähnt. Seine Erklärung lautet: damit wir den Schluss ziehen, dass, wenn jemand für die Ausübung einer leichten Mizwa, die keine Kosten verursacht, einen Lohn erhält, es für die Erfüllung von schweren Mizwot sicher eine höhere Belohnung geben dürfte.
Die Einschätzung von Schiluach HaKen als einer leichten Mizwa hat Raschi aus dem Midrasch (Bamidbar Rabba 6,2) übernommen. Dort wird die Frage diskutiert, warum die Tora nur bei wenigen Mizwot einen Lohn angibt. Der rabbinische Text bezeichnet das Gebot »Ehre deinen Vater und deine Mutter; damit lange deine Tage dauern auf dem Boden, den der Ewige, dein Gott, dir gibt« (2. Buch Mose 20,12) als ein schweres Gebot und Schiluach HaKen als ein leichtes.
Bei beiden Mizwot ist die Belohnung fast gleich. Der Midrasch führt aus, Gott habe den Lohn für die Mizwot deshalb nicht verraten, damit alle befolgt werden und nicht bevorzugt jene, die sich besonders lohnen.
ERWARTUNG Wenden wir uns nun einem Punkt zu, der einer Erläuterung bedarf. Was kann derjenige erwarten, der die Vogelmutter gemäß den Anweisungen der Tora behandelt hat? Anders gefragt: Wie ist das Versprechen »damit es dir gut ergeht, und du wirst lange leben« auszulegen? Maimonides, der Rambam (1138–1204), schreibt in seinem Kodex: »Aufgrund der mündlichen Überlieferung bedeuten die Worte ›damit es dir gut ergeht‹ in einer Welt, die vollkommen gut ist, und ›und du wirst lange leben‹ in einer Welt, die ewig ist. Diese Welt ist die zukünftige (Hebräisch: Olam haba)« (Hilchot Teschuwa 8,1). Der Rambam folgt der Ansicht des Tannaiten Rabbi Jakow, der gelehrt hat, in dieser Welt gebe es keine Belohnung für die Erfüllung eines Gebotes.
In einer Barajta lesen wir: »Rabbi Jakow sagt: Du hast kein in der Tora geschriebenes Gebot, bei dem eine Belohnung angegeben ist, aus dem nicht die Auferstehung der Toten zu entnehmen wäre. Bei der Ehrung von Vater und Mutter heißt es: ›damit du lange lebst und damit es dir wohl gehe‹. Beim Fliegenlassen der Vogelmutter heißt es: ›damit es dir wohl gehe und du lange lebst‹. Wo ist, wenn zu einem sein Vater gesagt hat, dass er auf einen Turm steige und ihm junge Tauben hole, und er auf den Turm steigt, die Mutter fliegen lässt und die Jungen holt, und auf dem Rückweg stürzt und stirbt, das Wohlergehen von diesem, und wo ist das lange Leben von diesem?! Vielmehr ist zu erklären: ›damit es dir wohl gehe‹, in der Welt, die ganz Wohlergehen ist. ›Damit du lange lebst‹, in der Welt, die ganz Ewigkeit ist« (Kidduschin 39b).
Der Talmud wendet ein: »Vielleicht kommt so etwas überhaupt nicht vor?« und antwortet auf diesen Einwand: »Rabbi Jakow sah einen solchen Fall.«
Dass eine falsche Auslegung der Lohnverheißung bei Schiluach HaKen sogar zu einem Abfall vom Judentum führen kann, macht die Gemara am Beispiel des Tannaiten Elischa Ben Abuja (später Acher, der Andere, genannt) deutlich: »Rabbi Josef sagte: Wenn Acher diesen Schriftvers so ausgelegt hätte, wie Rabbi Jakow, der Sohn seiner Tochter, würde er nicht der Sünde verfallen sein. – Was hatte Acher gesehen? – Manche sagen, er hatte (wie sein Enkel) einen solchen Fall gesehen.«
ZURÜCKHALTUNG Dass es nicht nur für die Erfüllung einer positiven Mizwa himmlischen Lohn gibt, lehrte Rabbi Schimon in der Mischna: »Wer sitzt und keine Sünde begeht, dem gibt man eine Belohnung, als hätte er eine Mizwa getan« (Makkot 3,15).
Gemeint ist, dass jemand sich zurückhält, obwohl es eine günstige Gelegenheit zum Sündigen gibt; wie im Fall von Josef im Hause Potifars. Damit keine Missverständnisse aufkommen, erscheint zum Schluss die Bemerkung angebracht, dass die Belohnung, von der in der Tora die Rede ist, nicht der Beweggrund für die Einhaltung der Mizwot sein sollte!
In der Mischna lesen wir: »Antigonos aus Socho pflegte zu sagen: Seid nicht wie Diener, die den Herrn bedienen in der Absicht, einen Lohn zu empfangen, sondern seid wie Diener, die den Herrn bedienen nicht in der Absicht, Lohn zu empfangen« (Sprüche der Väter 1,3).
Der Mainzer Rabbiner Marcus Lehmann (1831–1890) kommentiert: »Es gibt keine reinere und schönere Lehre als diese. Die Wahrheit erstreben um der Wahrheit willen, das Gute vollbringen um des Guten willen, ohne Nebenabsichten – das ist die höchste Aufgabe des Menschenlebens.«
Antigonos aus Socho hat auf das Lebensziel hingewiesen, das erreicht werden soll. Aber auf dem Weg zu der von dem Tannaiten beschriebenen Haltung kann, wie der Rambam (Hilchot Teschuwa 10,4 und 5) ausführlich darlegt, die Ausübung der Mizwot um des Lohnes willen durchaus sinnvoll und hilfreich sein!
Der Autor ist emeritierter Professor für Psychologie und lebt in Jerusalem.
inhalt
Im Wochenabschnitt Ki Teze werden Verordnungen wiederholt, die Familie, Tiere und Besitz betreffen. Dann folgen Verordnungen zum Zusammenleben in einer Gesellschaft, wie etwa Gesetze zu verbotenen sexuellen Beziehungen, dem Verhalten gegenüber Nicht-Israeliten, Schwüren und der Ehescheidung. Es schließen sich Details zu Darlehen, dem korrekten Umgang mit Maßen und Gewichten sowie Sozialgesetze an.
5. Buch Mose 21,10 – 25,19