Patrilinearität

Vom Stamme Israels

Wer gehört dazu? Bereits vor 150 Jahren diskutierten die deutschen Gemeinden die Integration von patrilinearen Juden. Foto: Getty Images/iStockphoto

In einem nie vollendeten Roman erzählt Heinrich Heine die Geschichte des Rabbi von Bacharach, der an einem Sederabend Hals über Kopf aus seiner Heimatstadt am Mittelrhein fliehen muss, weil er eines Ritualmords beschuldigt werden soll. Die Nacht ist kühl, der Vollmond leuchtet über dem Rhein, der Rabbi und seine Frau schaffen es, am nächsten Morgen an die Tore der Frankfurter Judengasse zu gelangen.

Im festlichen Durcheinander des ersten Pessachtages treffen sie hier auf einen eigenartigen Don Quijote – einen spanischen Ritter, der mit seiner Rüstung und Auftreten im Ghetto wie von einem anderen Stern zu sein scheint. Der Ritter beteuert, der Sohn eines spanischen Juden zu sein, der, so kann man nur vermuten, zwangsgetauft und als »Converso« eine Altchristin geheiratet hat. Doch obwohl dem jungen Mann als freiem Christenmenschen die große Welt zu Füßen liegt, zieht es ihn doch in die enge, dunkle Gasse des Frankfurter Ghettos – dem Ruf der Vorfahren entsprechend.

Bei Heinrich Heine taucht ein Vaterjude im Frankfurter Ghetto auf.

Da steht er nun, inmitten des Ghettos, der Sohn eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter, und will dazugehören. Sein weiteres Schicksal wird für immer im Verborgenen bleiben, denn das erhaltene Fragment des Rabbi von Bacharach endet prompt im Gespräch zwischen dem Rabbi und dem patrilinearen Don Quijote. Die restliche Handschrift ging im großen Brand von Hamburg 1842 verloren; ungefähr zur selben Zeit löst sich die alte Welt des Ghettos, die Heine beschreibt, endgültig auf. Was uns aus dem kleinen erhaltenen Fragment bleibt, ist die Beschreibung der streng nach den religiösen Gesetzen geregelten Welt des Ghettos und des plötzlichen Auftauchens eines Individuums, das nach der Halacha kein Jude ist, aber über seine Herkunft doch irgendwie dazuzugehören scheint.

Emanzipation und Assimilation

Tatsächlich entflammt gerade in Deutschland, in dem die Emanzipation und Assimilation bereits in vollem Gange ist, schon zu Heines Zeiten die rabbinische Diskussion über den Umgang mit patrilinearen Jüdinnen und Juden. Zu dieser Zeit bildet sich eine orthodoxe Stimme für deren stärkere Integration in die Gemeinden aus – eine Position, die heute vor allem in national-religiösen Kreisen in Israel vertreten wird, in Deutschland jedoch oft zu kurz kommt.

Dass das Judentum über die Mutter weitergegeben wird, wurde schriftlich zuerst in der Mischna im dritten Kapitel des Traktats Kidduschin festgehalten. »In allen Fällen, in denen weder er (der Vater des Kindes) noch ein anderer (jüdischer Mann) sie (die Mutter des Kindes) mit Kidduschin heiraten kann, ist das Kind so wie sie. Wo ist dies der Fall? Beim Kind einer Nichtjüdin.« Die Kinder aus einer Beziehung, deren Partner nicht nach dem religiösen Gesetz heiraten können, weil sie nicht beide dem Judentum angehören, bekommen also den Status der Mutter zugesprochen.

Die Kinder aus einer solchen Beziehung haben, ebenso wie die Mutter, keine Verpflichtung, die Gebote zu befolgen, den Schabbat zu halten; die Söhne werden nicht zu einem Minjan gezählt und können auch nicht selbst nach jüdischem Ritus heiraten. In all diesen Aspekten, die vom halachischen Personenstand abhängen, haben diese Kinder also denselben Status wie die Kinder zweier nichtjüdischer Eltern.

Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass eine Person, die ein jüdisches Elternteil hat, in den meisten Fällen einen stärkeren Bezug zum Judentum aufweist als eine Person ohne jüdische Eltern. Auch wenn diese familiären Bande keinen direkten Niederschlag im halachischen Personenstatus finden, werden sie doch indirekt relevant, wenn man sich den Giur einer solchen Person vorstellt. Der halachische Status eines Konvertiten ist maßgeblich davon geprägt, dass er keinerlei Familie in der jüdischen Gemeinschaft besitzt. Das macht ihn verletzlich und fordert von der Gemeinschaft einen besonderen Schutz ihm gegenüber ein, den sonst nur Witwen und Waisen genießen.

Halachischer Personenstand

Doch was ist nun, wenn das Kind eines jüdischen Vaters zum Judentum konvertiert? Dem halachischen Personenstand nach ist er ein Ger, doch kehrt er nicht mit dem Übertritt ins Judentum auch gleichzeitig in die Familie seines Vaters zurück? Wäre eine solche Familienzusammenführung nicht sogar wünschenswert, sodass die eigentlich skeptische Haltung gegenüber Konversionskandidaten (Missionsverbot!) einer proaktiven Haltung gegenüber dem »verlorenen Sohn« weichen müsste? Diese Fragen lösten Mitte des 19. Jahrhunderts eine Debatte zwischen zwei bekannten orthodoxen Rabbinern in Deutschland aus – Rabbiner Zwi Hirsch Kalischer und Rabbiner Esriel Hildesheimer.

Rabbiner Zwi Hirsch Kalischer (1795–1874) war über 50 Jahre lang der Gemeinderabbiner von Thorn im heutigen Polen und gilt als einer der Vordenker des religiösen Zionismus. In einer Response bezüglich der Frage, ob man die Söhne jüdischer Väter und nichtjüdischer Mütter dem Wunsch der Eltern nach beschneiden dürfe, antwortet er, dass dies nicht nur erlaubt, sondern gar eine Verpflichtung sei: »Auch wenn das Kind dem Gesetze nach ›wie sie (das heißt die nichtjüdische Mutter, siehe oben) ist‹, ist es doch Teil des Heiligen Stammes, wie es geschrieben steht (Esra 9,2): ›Sie haben ihre Töchter sich und ihren Söhnen zu Frauen genommen, sodass der heilige Stamm sich mit den Völkern der Länder mischte.‹ Die Verweigerung einer Beschneidung würde einer Verstoßung gleichkommen, und heißt es nicht ›damit niemand verstoßen bleibe?‹ (II. Samuel 14,14).«

Rabbiner Kalischer war dafür, vaterjüdische Söhne zu beschneiden.

Die Response Rabbi Kalischers gleicht einer kleinen Revolution. Zwar ändert er nicht die halachische Regelung der Weitergabe des Judentums über den Vater – eine Option, die im Rahmen der orthodoxen Halacha nicht möglich wäre, weil die matrilineare Regelung auf die Mischna zurückgeht. Doch mit der Anweisung, vaterjüdische Kinder zu beschneiden und sie im Geiste des Judentums zu erziehen, stellt er sie de facto den Kindern jüdischer Mütter gleich.

Seine Position rechtfertigt er mit einem Vers aus dem Buch Esra: Am Ende der babylonischen Gefangenschaft sucht Esra die Versprengten des »heiligen Stamms« Israel auf, von denen viele babylonische Frauen geheiratet haben und zwischen der Landesbevölkerung verstreut lebten. Kalischer interpretiert den Vers so, dass mit dem »heiligen Stamm« die Kinder aus diesen babylonisch-jüdischen Ehen gemeint sind – und sie vom Propheten Esra aktiv aufgesucht werden, um sie ins Judentum zurückzuführen. Damit führt Kalischer auch den halachischen Begriff des »Zera Kodesch« (»heiliger Stamm«) für patrilineare Juden ein, der abgeändert bis heute verwendet wird.

These und Antithese

Doch das Judentum wäre nicht das Judentum, wenn auf eine These keine Antithese folgen würde. Seinen ersten prominenten Kontrahenten findet Rabbiner Kalischer in Rabbiner Esriel Hildesheimer (1820–1899), dem Begründer und langjährigen Leiter des Rabbinerseminars zu Berlin, seinerzeit der wichtigsten orthodoxen Ausbildungsstätte im westlichen Europa.

Rabbi Hildesheimer schreibt, er wundere sich sehr, wie Rabbi Kalischer überhaupt zu solch einer Meinung kommen konnte. Bereits von der Mischna sei festgelegt, dass das Kind einer nichtjüdischen Mutter und eines jüdischen Vaters allen Aspekten nach ein Nichtjude sei: Darum könne es zwar konvertieren, wenn es wollte, das allgemeine Missionierungsgebot gelte jedoch auch für ein solches Kind. »Bezüglich dem, dass wir das Kind sonst verstoßen würden, wundere ich mich im höchsten Maße, wie könnten wir es verstoßen, wenn es gar nicht Teil der Gemeinschaft ist?«

Weiter heißt es bei Hildesheimer: »Und dass er (seine Worte) aus den Versen in Esra ableitet, erschließt sich meiner bescheidenen Meinung nach überhaupt nicht, denn der heilige Stamm sind nicht die dort geborenen Kinder, sondern der Stamm Israel selbst mischte sich unter die Völker, in dem er die Frauen heiratete, und über mögliche Kinder sagt der Vers überhaupt nichts aus.« Er »kann nicht verstehen, wie mein Freund, möge er lang leben, sich für diese Sache so sehr einsetzte, haben wir denn nicht genug andere Sorgen?«

40 Jahre nach dem Tod Rabbiner Hildesheimers sollten sich über das Rabbinerseminar wie über den gesamten Stamm Israels tatsächlich ganz andere Sorgen legen. Dem Feuer der Nazis fielen nun auch all diejenigen Schriften Heines zum Opfer, die den Brand von Hamburg überstanden hatten; die prächtigen Synagogen, die an der alten Frankfurter Judengasse erbaut wurden, waren schneller zerstört als die Häuser des alten Ghettos, und auf der Rampe von Auschwitz spielte es keine Rolle, ob jemand Mutter- oder Vaterjude war.

Rabbi Soloveitchik wollte »die Zurückkehrenden mit offenen Armen empfangen«.

Was bleibt heute? Die allermeisten orthodoxen Gemeinden in Deutschland scheinen sich an die Meinung Rabbiner Hildesheimers zu halten. Patrilineare Juden und Jüdinnen sind von allen Gemeindeaktivitäten ausgeschlossen, auch wenn diese keinen religiösen Charakter haben.

Seder- und Schabbatabende

Natürlich könnten solche Personen auch nach der Meinung Rabbi Kalischers nicht zum Minjan gezählt oder zur Tora aufgerufen werden, doch halachisch spricht nichts dagegen, den Kindern die Möglichkeit zu geben, auf die Ferienlager der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) zu fahren und sie bei Seder- und Schabbatabenden mit einzuschließen – so, wie auch Heinrich Heines spanischem Don Quijote nicht die Tore der Judengasse vor der Nase zugeschlagen wurden.

Einer der Studenten des Hildesheimer-Rabbinerseminars, die es vor dem Krieg schafften, Europa rechtzeitig zu verlassen, war Rabbiner Joseph B. Soloveitchik, der später eine der wichtigsten rabbinischen Persönlichkeiten der USA werden sollte. Angesichts der Erfahrungen der Schoa, aber auch der religiösen Erneuerungsbewegungen, die ab den 50er-Jahren in den USA begannen, schrieb er: »In Fragen der rituellen Unreinheit, dem Strafrecht oder den Ge- und Verboten gab der Heilige, gelobt sei Er, den Gelehrten Israels die Vollmacht, die genaue Auslegung des Gesetzes festzulegen.« In globalen Fragen, die über diese alltäglichen Fragen hinausgehen und das Schicksal des jüdischen Volkes beträfen, entscheide Gott die Halacha jedoch selbst.

Die Schicksalsschläge des 20. Jahrhunderts machten es für Rabbiner Soloveitchik eindeutig: »Es bestehen überhaupt keine Zweifel daran, dass der Schöpfer der Welt die Halacha der Meinung des Rabbi Kalischer nach auslegt. An uns liegt es nun, die Zurückkehrenden mit offenen Armen zu empfangen und sie in die Mitte ihrer Familie zurückzuführen.«

Der Überblick über die halachischen Positionen orientiert sich größtenteils an einem Essay des israelischen Rabbiners Mosche Pinchuk auf dem Internetportal torahmitzion.org. Mit freundlicher Genehmigung des Betreibers.

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