Einer der frühesten systematischen Versuche, im Rahmen der abendländischen Kultur den gerechten Krieg zu definieren, geht auf den christlichen Philosophen Augustinus von Hippo (345–430) zurück. (...) Augustinus’ Systematik wurde später von dem Dominikanermönch Thomas von Aquin (1225–1274) weiterentwickelt.
Folgende Voraussetzungen sind seiner Meinung nach erforderlich, um einen Krieg als gerecht bezeichnen zu können: Es existiert ein rechtmäßiger Herrscher; ein legitimer Kriegsgrund liegt vor; die Absicht der kriegsführenden Partei ist gerecht; der Krieg ist das letzte Mittel, um ein Unrecht zu korrigieren; es muss die Aussicht auf einen eventuellen Frieden nach der Beendigung der Feindseligkeiten bestehen, und die kriegerische Gewaltanwendung muss verhältnismäßig zur Aggression sein. (...)
Bevor wir die jüdischen Quellen zur Kriegsführung betrachten, muss betont werden, dass das jüdische Volk in der Diaspora keine Armee besaß und daher nicht in der Lage war, seine Situation als Volk und Glaubensgemeinschaft durch kriegerische Auseinandersetzungen zu beeinflussen. Vielmehr war es eher in der Position des Opfers von Gewalt. Die rabbinischen Interpretationen und ihr Verständnis der biblischen Schriften hatten daher bis zur Gründung des Staates Israel lediglich theoretische Bedeutung.
In der Tora hingegen finden sich zahlreiche Beschreibungen von gewalttätigen Auseinandersetzungen, insbesondere die kanaanitischen Eroberungskriege und der Konflikt mit dem mythischen Volk Amalek (2. Buch Mose 17,14). Während das biblische Judentum nicht als pazifistisch bezeichnet werden kann, findet sich gleichsam die Tendenz, Gewalt nur »kontrolliert« anzuwenden. Kriegsführung war neben der legislativen Autorität die Raison d’être des jüdischen Herrschers: »Dass auch wir seien wie all die Völker und unser König uns Recht spreche, und vor uns herziehe und unsere Kriege führe« (1. Samuel 8,20). Allerdings war auch der König in seinem Handeln verschiedenen Gesetzen unterworfen und nur unter genau definierten Umständen autorisiert, staatliche Gewalt anzuwenden.
Die Tora unterscheidet zwischen dem Gebotenen Krieg (Milchemet Mizwa) und dem Erlaubten Krieg (Milchemet Reschut). Diese Kriege unterscheiden sich sowohl in den Kriterien, die zum Konflikt führen, als auch in der Kriegsführung selbst.
gebotener Krieg Der wohl bedeutendste jüdische Gelehrte Maimonides unterscheidet zwischen drei Fällen des Gebotenen Krieges: 1. zunächst die von Gott zur Eroberung des Gelobten Landes gebotenen Kriege gegen die sieben Völker Kanaans, 2. den Verteidigungskrieg gegen einen Aggressor und 3. den Krieg gegen das Volk der Amalekiter (5. Buch Mose 25,19). Dem biblischen jüdischen Herrscher war es möglich, die Entscheidung, einen Gebotenen Krieg zu führen, selbst zu fällen, und er war dabei nicht auf die Zustimmung des Sanhedrins angewiesen. Er allein bestimmte den Zeitpunkt des Ausbruchs von Kriegshandlungen. Diese weitgehende Autonomie des Königs geht auf das göttliche Gebot, das Gelobte Land zu erobern und zu besiedeln, zurück (5. Buch Mose 9,1). Während eines solchen Krieges bestand allgemeine Wehrpflicht (Maimonides Mischne Tora. Melachim Umilchamot 5,1–2) vom 20. Lebensjahre an (4. Buch Mose 1,3).
Der Krieg gegen die Völker Kanaans war in seiner Ausführung unbegrenzt und gnadenlos. Die Kompromisslosigkeit dieses Konfliktes wird mit der Morallosigkeit der im Lande wohnenden Völker (5. Buch Mose 9,5) und ihrem negativen Einfluss auf die israelitischen Stämme gerechtfertigt: »Auf dass sie euch nicht lehren zu tun wie all ihre Gräuel, die sie für ihre Götter getan und ihr euch versündigt an dem Ewigen eurem Gotte« (5. Buch Mose 20,18). Es ist dabei anzumerken, dass schon im ersten Jahrhundert n.d.Z. der Gelehrte Jehoschua ben Chananja erklärte, dass die »sieben Völker« als solche nicht mehr identifizierbar seien (Mischna Jadajim 4,4). Der Konflikt mit den »sieben Völkern Kanaans« war ein singulärer Fall in der Geschichte und hat daher lediglich aus kulturhistorischem Interesse Bedeutung. Er beeinflusste zu keiner Zeit das jüdische Verständnis der Kriegsführung. (...)
Gewaltanwendung als Selbstverteidigung hingegen und zum Schutz Unschuldiger ist nicht nur erlaubt, sondern geboten. Das Judentum betont das Recht des Individuums, einen gewalttätigen Angriff mit allen Mitteln abzuwehren, auch wenn der Aggressor dabei zu Tode kommt. Dieses Prinzip geht auf das biblische Beispiel des Einbrechers zurück, der vom Hausherrn getötet wird (2. Buch Mose 22,1). Dieses Recht, eine Aggression mit gewaltsamen Mitteln abzuwenden, findet sich wiederholt in jüdischen Quellen. (...)
Das Recht auf Selbstverteidigung und Unversehrtheit ist umfassend. So ist es im Falle unmittelbarer Lebensgefahr ausdrücklich erlaubt, selbst am Schabbat die Waffen zu ergreifen (Eruwin 45a). Maimonides weitet dieses Gebot aus und lehrt, dass es zu Hilfe kommenden Truppen verboten ist, auf den Ausgang des Schabbats zu warten (Maimonides: Mischne Tora, Hilchot Schabbat 3,23). Gewaltanwendung und Selbstverteidigung sind in talmudischer Tradition jedoch Grenzen gesetzt. Dem Hausherrn, der sich dem Einbrecher widersetzt, ist es demnach nicht erlaubt, diesen zu töten, wenn deutlich ist, dass der Dieb nicht beabsichtigt, tödliche Gewalt anzuwenden. (...)
Erlaubter Krieg Erst nach der erfolgreichen Beendigung des Gebotenen Krieges war es dem israelitischen Herrscher erlaubt, einen Erlaubten Krieg zu führen, »um die Grenzen des Landes zu erweitern« (Maimonides: Mischne Tora. Melachim Umilchamot 5,1). Allerdings war der König nur dann befugt, Krieg zu führen, nachdem er die Zustimmung des Großen Sanhedrins (71 Richter) erhalten hatte. Zusätzlich musste der König die Einwilligung des Hohepriesters einholen, beziehungsweise das Orakel »Urim Wetummim« musste konsultiert werden. (...)
Während Erlaubter Kriege bestehen ausdrückliche Ausnahmen zur allgemeinen Wehrpflicht. Die Tora macht deutlich, dass alle, die neu vermählt sind, die ein neues Haus gebaut haben, und diejenigen, die einen neuen Weinberg angebaut haben, von der Wehrpflicht befreit sind (5. Buch Mose 20, 5–7). Zusätzlich war es furchtsamen und ängstlichen Männern erlaubt, den Kämpfen fernzubleiben (5. Buch Mose 20,8).
Bevor Kriegshandlungen ausbrechen können, muss dem Feind ein Friedensangebot mit eventuellen Tributsverpflichtungen unterbreitet werden (5. Buch Mose 20, 10–11). Weiterhin musste sich das eroberte Volk verpflichten, die Sieben Noachidischen Gebote zu erfüllen (Maimonides: Mischne Tora. Melachim Umilchamot 6,1). Nach Maimonides’ Verständnis galt die Verpflichtung des Friedensangebotes sowohl für Gebotene Kriege als auch für Erlaubte Kriege. Erst nachdem ein solches Angebot abgeschlagen wird, ist ein militärischer Angriff erlaubt.
Das Buch Josua erwähnt solche Friedensangebote wiederholt und betont, dass mit einer Ausnahme alle Völker das Friedensangebot abschlugen und im Kampf bezwungen werden mussten (Josua 11, 19). Sollte die Bevölkerung das Angebot abschlagen, dann ist es im Falle eines Erlaubten Krieges lediglich erlaubt, die männliche Bevölkerung zu töten, nicht jedoch Frauen und Kinder, die als Kriegsbeute behandelt werden. Während eines Gebotenen Krieges gegen die sieben nativen Völker oder gegen Amalek besteht diese Einschränkung nicht (5. Buch Mose 20, 13–16; 5. Buch Mose 25,19).
Die jüdische Tradition regelt auch das Verhalten der kriegsführenden Parteien nach Ausbruch der Kampfhandlungen, um das Leiden der Zivilbevölkerung zu lindern. Es muss beispielsweise darauf geachtet werden, dass eine belagerte Stadt nur von drei Seiten umschlossen wird, um der Bevölkerung eine Fluchtmöglichkeit zu gewähren (Maimonides: Mischne Tora. Melachim Umilchamot 6,7). Während der Feindseligkeiten ist es weiterhin verboten, fruchttragende Bäume zu fällen (5. Buch Mose 20,19) oder diese von der Wasserzufuhr abzuschneiden. Davon wird abgeleitet, dass Vandalismus und mutwillige Zerstörung generell untersagt sind. Weiterhin finden sich biblische Beispiele, den besiegten Gegner gnadenvoll zu behandeln.
Gefangene Das Judentum behandelt auch das Problem der Auslösung von Kriegsgefangenen ausführlich. Dabei wird generell nicht zwischen Zivilisten und uniformierten Soldaten unterschieden. Im Talmud (Baba Batra 8b) wird Pidjon Schwujim, die Gefangenenauslösung, als »ein besonders gutes Werk« bezeichnet, da die Gefangenschaft schlimmer als Hunger und Tod sei. Maimonides betont, dass es keine größere Mizwa gibt als die Auslösung von Gefangenen (Mischne Tora). (...) Trotz dieser Betonung ist auch die Befreiung der Gefangenen dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit unterworfen: »Man löse keine Gefangenen über ihren Wert aus, als vorsorgende Institution« (Mischna Gittin 4,6), um die Entführung von Juden zum Zwecke der finanziellen Erpressung nicht zu fördern.
Diese Diskussion über die Verhältnismäßigkeit wurde im Oktober 2011 wieder relevant, als die israelische Regierung 1027 palästinensische Gefangene im Austausch für den seit über fünf Jahren in Gefangenschaft gehaltenen Soldaten Gilad Schalit freiließ, wobei sich sowohl Befürworter als auch Gegner dieser Vereinbarung auf jüdische Quellen stützten. Dieser Gefangenenaustausch war nicht die erste unverhältnismäßige Vereinbarung mit terroristischen Organisationen, um einen israelischen Soldaten zu befreien.
Aufgrund des bedeutenden negativen Einflusses auf die Psyche der Bevölkerung und der Wehrpflichtigen hat die israelische Armee den sogenannten Hannibal-Befehl erlassen, der jeden israelischen Soldaten auffordert, alles zu tun, um eine unmittelbar bevorstehende Verschleppung eines Soldaten zu verhindern; dabei ist die Tötung des Soldaten ausdrücklich mit eingeschlossen.
Der Autor ist Militärrabbiner der US-Armee. Sein Text (hier leicht gekürzt) erschien in »Lehre mich, Ewiger, Deinen Weg. Ethik im Judentum«. Herausgegeben vom Zentralrat der Juden in Deutschland und dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, Hentrich & Hentrich, Berlin 2015, 328 S., 24,90 €.