Mögen die Verwünschungen des vergangenen Jahres enden und der Segen des neuen Jahres ansetzen.» Dieser Wunsch stammt aus den Gebeten des Neujahrsfestes und scheint dieses Jahr besondere Bedeutung zu tragen. Was für ein Jahr! Musste man sich vor einem Jahr noch an die Anfänge der Pandemie gewöhnen und hielt sich vielleicht optimistisch trostreich an die Hoffnung, dass sie bald überstanden sein würde, fällt nun der Blick zurück auf das vergangene Jahr ganz anders aus.
Und schon steht wieder Rosch Haschana vor der Tür, wieder unter ungewissen Vorzeichen, wieder im Schatten der Pandemie und der steigenden Zahlen. Mehrfach schien das Virus bereits besiegt zu sein: einmal nach dem ersten Lockdown vergangenes Jahr, als die Zahlen wie erhofft sanken und den Sommer über eine gewisse Normalität versprachen. Ein zweites Mal diesen Frühsommer, als infolge der Impfungen in manchen Ländern, allen voran in Israel, die Ansteckungsrate über mehrere Wochen erfreulich zurückging und Feste gefeiert wurden.
PANDEMIE Doch nun scheint es, dass die erhoffte «Normalität» von vor der Pandemie nicht so schnell, wenn überhaupt wieder, zurückkehren wird. Die Delta-Variante und verschiedene weitere Faktoren haben diese Hoffnung vorerst durchkreuzt. Manche Veränderungen – auch wenn sie nicht besonders gefallen und unbequem sein mögen – werden wohl ihren festen Platz beibehalten.
Es scheint, als werden wir dazu ermahnt, unsere Möglichkeiten und Fähigkeiten nicht zu überschätzen und uns nicht allzu schnell in täuschender Sicherheit zu wiegen. Die Herausforderung stellt sich auch den Synagogen und deren Betreibern besonders zu den Hohen Feiertagen: Wie kann man die Feiertagsatmosphäre möglichst authentisch und nach früheren Erlebniswerten ermöglichen und andererseits die Betenden nach besten Möglichkeiten vor einem erneuten Ansteckungsrisiko schützen?
Rosch Haschana und Jom Kippur sind in der Tradition die Tage des himmlischen Gerichts.
Vielleicht spiegelt das Element der Unsicherheit ein Stück weit auch das Wesen der anstehenden Feste wider. Rosch Haschana und Jom Kippur sind bekanntlich Tage des himmlischen Gerichtes. Besonders deutlich kommt das im zentralen Gebet zu Beginn der Wiederholung des Mussafgebetes – «Unetane tokef» –, dessen Worte und Melodien die betenden Herzen erzittern lassen, zum Ausdruck.
ENGEL Geschildert wird darin, wie jeder vor G’tt wie Schafe vor ihrem Hirten einzeln vorbeigeführt und dabei eindringlich geprüft wird, worauf das Urteil für das kommende Jahr festgelegt wird, unter bebendem Gesang der Engel, welche da verkünden: «Siehe, es ist der Tag des Gerichtes!»
Das Gebet scheint frühmittelalterliche Ursprünge aufzuweisen, geht der bekannten Legende nach aber auf Rabbi Amnon von Mainz vor knapp 1000 Jahren zurück. Dieser, ein gelehrter, frommer, weltgewandter und geachteter Jude, wurde vom Mainzer Erzbischof aufgefordert, sich zum Christentum zu bekehren. Er bat sich drei Tage Bedenkzeit aus, um dann doch die Aufforderung abzuschlagen, worauf er hart bestraft wurde. Rabbi Amnon sah dies mitunter auch als Bestrafung für sein anfängliches Zaudern. Zu Rosch Haschana hub er vor versammelter Gemeinde zum Gebet «Unetane tokef» an und hauchte dann seine gepeinigte Seele aus.
WELTERBE Die prachtvollen mittelalterlichen Gemeinden Mainz, Worms und Speyer, welche erst kürzlich ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen wurden, lebten in großer Ambivalenz. Einerseits pulsierte in ihnen das jüdische Leben, und sie brachten größte Gelehrte hervor, deren Namen, Worte und Lehren bis in die heutige Zeit leuchten: Rabbenu Gerschom Meor haGola, Rabbi Meschulam ben Kalonymos, Rabbi Jaakov ben Jakar, Raschi, haR’i Ka’z (der Lehrer des Maharam von Rothenburg) und viele mehr.
Das Gebet «Unetane tokef» geht der Legende nach auf Rabbi Amnon von Mainz zurück.
Andererseits wurden sie besonders hart vom ersten Kreuzzug im Jahr 1096 (Geserot Tatn’u) getroffen, welcher diese blühenden Gemeinden fast vollständig vernichtete. Bis heute erinnert in vielen aschkenasischen Gemeinden das zu Schabbat eingeschaltete Gebet «Aw haRachamim» an die Märtyrer, einige der Klagelieder zum Trauertag Tischa beAw rühren ebenfalls daher. Aber auch sonst gestaltete sich das Zusammenleben mit der christlichen Umwelt vielschichtig und komplex und war mitunter von Ausgrenzung und Verachtung geprägt.
Dennoch fanden die mittelalterlichen Juden, sowohl dieser bekannten «SchUM»-Gemeinden (hebräische Abkürzung für Speyer-Worms-Mainz) als auch anderswo, immer wieder die Kraft und schöpften Hoffnung, festen Glaubens ihr Leben von Neuem aufzubauen. «Mögen die Verwünschungen des vergangenen Jahres enden und der Segen des neuen Jahres ansetzen.»
In den «SchUM»-Gemeinden und anderswo fanden Juden immer wieder Kraft, neu anzufangen.
Rosch Haschana, das anstehende Neujahrsfest, ist nicht nur ein Anlass, alles Schlechte und Negative des vergangenen Jahres hinter sich zu lassen, sondern vor allem, genau dieses Erlebte als Grundlage für ein besseres Jahr anzusehen!
ERINNERUNG «Tag der Erinnerung» wird das Fest in der Tora genannt. Erinnerungen setzen sich aus vielen verschiedenen Komponenten zusammen: aus Erlebnissen, Erkenntnissen, Gefühlen, ins Gedächtnis gebrannten Bildern. Interessanterweise funktioniert unsere Erinnerung selektiv, und die Summe der von ihr zugelassenen Einprägungen – bewusst oder unbewusst – ergeben einen bedeutenden Teil unseres Wesens. Die Erinnerungen sind nicht nur gute. Zu ihr gehören auch schwere Momente und Zeiten sowie von oder an uns vollzogene Fehler.
An Rosch Haschana lauschen wir den Tönen des Schofars, des Widderhornes, welche sich im Wesentlichen aus einer einfachen Abfolge zusammensetzen: Tekia – ein einfacher, lang gezogener Ton; Schewarim/Terua – mehrere kurze, abgehackte Töne; Tekia – wieder ein einfacher, lang gezogener Ton.
Diese Abfolge spiegelt die zentrale Lebensbotschaft dieses erhabenen Festes wider. Vieles beginnt geradlinig, in vollkommener Weise, von der Welterschaffung über unser individuelles Leben (insbesondere in moralischer Hinsicht), Beziehungen zu Mitmenschen und so weiter. Doch dann stellen sich Kanten und Ecken ein: Herausforderungen, Schwierigkeiten, Unsicherheit, Mängel und Fehler.
ABRUNDUNG Die Vollkommenheit scheint dahin zu sein, aus dem einfachen, langgezogenen Ton werden kurze, abgehackte Töne, welche sich mühevoll von einem zum nächsten hangeln. Doch abgerundet wird die Abfolge wieder von einer Tekia. Der Weg zurück zur ursprünglichen Vollkommenheit steht stets offen, Fehler können korrigiert werden, aus Schwierigkeiten ergeben sich oft neue Erkenntnisse und Chancen.
Dafür steht Rosch Haschana. Es läutet nicht nur das neue Jahr ein, es beendet auch das vergangene. Viele Erfahrungen, manche davon schwierige, sind oft notwendig, um kraft der Hoffnung und des Glaubens an eine Verbesserung den Weg zu einer noch vollkommeneren Zukunft und zur Vollendung einschlagen zu können, bis hin zur Tekia gedola («große Tekia») zum angestrebten vollkommenen Zustand.
«Mögen die Verwünschungen des vergangenen Jahres enden und der Segen des neuen Jahres ansetzen.»
Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG).