Im Wochenabschnitt Ha’asinu steht ein Vers, der gleichzeitig der erste Satz des Zidduk Hadin ist, eines Gebets, das wir bei Beerdigungen rezitieren: »Der Fels, vollkommen in Seinem Werk, denn alle Seine Wege sind gerecht; ein G’tt der Treue und ohne Fehl, gerecht und gerade ist Er« (5. Buch Mose 32,4).
In diesem Vers beteuern wir unseren Glauben daran, dass alles, was der Allmächtige tut, gerecht ist und dass wir Sein Urteil über uns akzeptieren. Doch empfinden wir das wirklich so? Oft hört man Aussagen wie: »Wie konnte G’tt so etwas zulassen?« oder »Wenn es G’tt gäbe oder wenn Er gerecht wäre, dann wäre dieses oder jenes niemals passiert!«
GLEICHNIS Der Chofetz Chaim, Israel Meir HaKohen (1839–1933), hat für unsere Wahrnehmung der Geschehnisse folgendes Gleichnis gebracht: Ein Geschäftsmann wurde durch Umstände dazu gezwungen, auf der Durchreise den Schabbat in einem kleinen Dorf zu verbleiben. Am Schabbatmorgen ging er in die örtliche Synagoge und war dort vollkommen verblüfft, denn die Gabbaim vergaben nur an die einfachen Synagogenbesucher Alijot. Sie riefen also ausschließlich ungelehrte Beter zur Tora auf, während nicht eines der gelehrten und angesehenen Mitglieder der Synagoge mit einem Toraaufruf beehrt wurde.
Nach dem G’ttesdienst konnte sich der Geschäftsmann nicht mehr zurückhalten. Er stürmte zu einem der Gabbaim hinüber und sagte: »So macht man das nicht! Wie kann man die Gelehrten so beschämen? In allen anderen Gemeinden, überall auf der Welt, werden die Gelehrten und angesehene Gemeindemitglieder immer als Erste beehrt und zur Tora aufgerufen, nur bei euch nicht. Das ist ein Skandal und eine Unverschämtheit! Wie könnt ihr so etwas tun?«
»Mein lieber Freund«, antwortete der Gabbai, »du bist zum ersten Mal hier und nur als Gast auf der Durchreise. Du verbringst nur einen Schabbat bei uns und fährst nach dem Schabbatausgang weiter. Du fällst dein Urteil aus einer Momentaufnahme von diesem einzigen Schabbat und nach dem Gefühl, das du gerade empfindest. Was du aber nicht weißt, ist, dass wir an allen anderen Schabbatot immer unsere Ehrenmitglieder zur Tora aufrufen, doch nachdem wir alle Ehrenmitglieder mit dem Aufruf bereits beehrt haben, geben wir auch den anderen Mitgliedern eine Möglichkeit, zur Tora aufgerufen zu werden, damit es am Ende des Tages für alle Synagogenbesucher fair und gerecht bleibt.«
So verhält es sich auch mit uns, erklärt der Chofetz Chaim. Wir alle sind nur für eine sehr kurze und begrenzte Zeit auf dieser Welt. Was auch immer wir als »gerecht« oder »ungerecht« empfinden, basiert nur auf den Erfahrungen, die wir innerhalb dieser kurzen Zeitspanne gemacht haben, und unserer gegenwärtigen Momentaufnahme, die jedoch sehr beschränkt und subjektiv ist. Haschem versichert uns jedoch, dass Seine Wege fair und gerecht sind. Wer sind wir also, dass wir mit unserer mikroskopischen Sicht auf die Weltgeschichte etwas anderes behaupten können?
LANDKARTE Raw Eliyahu Eliezer Dessler (1892–1953) vergleicht unsere Wahrnehmung der Zeit mit einem Blick auf eine riesige Landkarte durch ein Stück Papier, in dem ein kleines Loch ist. Man kann das Loch zwar von Stadt zu Stadt entlang der Straßen verschieben, aber dieser Fortschritt ist ein Produkt der Art und Weise, wie wir auf die Karte schauen, jedoch nicht der Karte selbst, die viel größer und umfangreicher ist. Erst nach dem Tod, sagt Raw Dessler, wird das Papier entfernt, und man kann die Gesamtheit sehen – und nicht nur unsere subjektive Wahrnehmung der Entwicklung.
Haschem ist derjenige, der »bis zum Ende der Generationen schaut«, weil Er das Ganze sehen kann. Raw Dessler schließt mit einer Ermahnung, Tora zu lernen, Mizwot zu tun und damit an der Wahrheit festzuhalten und sich damit darüber zu erheben, die Welt lediglich durch ein kleines Loch im Papier zu sehen.
leid Die Schoa ist ein besonders passendes und tragisches Beispiel für die Zeit, in der uns so viel Leid und Kummer widerfahren ist und so viele Grausamkeiten uns gegenüber verübt wurden. Und so hört man bis heute Stimmen, die fragen: »Wo war die Gerechtigkeit?« oder »Wo war Haschem?«
Die Wahrheit ist, dass es unmöglich ist, Haschems Berechnungen, die diese Tragödie zugelassen haben, zu begreifen, doch der Chazon Isch, Avraham Jeshajahu Karelitz (1878–1953), sagte einmal, dass er, obwohl er keine Antwort darauf hat, warum so viele Menschenleben auf die Art und Weise genommen wurden, eines ganz sicher weiß: Wenn ein guter und erfahrener Schneider ein vollkommen schönes und wertvolles Stück Stoff zerreißt, weiß man ganz genau, dass er das nicht tut, um den Stoff einfach zu zerstören. Wenn er das tut, ist seine Absicht in der Regel, aus dem Stoff, den er zerreißt, ein viel schöneres Kleidungsstück herzustellen.
Laut dem Chazon Isch scheinen wir, die Kinder und Enkelkinder der Generation, die durch die Gaskammern gegangen ist, das Potenzial zu haben, das schöne Kleidungsstück zu werden, das Haschem im Sinn hatte, als er den Holocaust zuließ. Das Potenzial ist vorhanden, nun liegt es an uns, es auszuschöpfen und zu verwirklichen!
Der Autor ist Rabbiner der Synagogengemeinde Konstanz.
inhalt
Der Wochenabschnitt gibt zu einem großen Teil das »Lied Mosches« wieder. Mosche trägt es dem Volk vor und weist darauf hin, wie wichtig es ist. Er fordert die Israeliten auf, sich an den Werdegang der Nation und an ihre Vorfahren zu erinnern, die den Bund mit G’tt geschlossen haben. Das Lied erzählt von der Macht G’ttes und wie sie sich in der Geschichte der Welt gezeigt hat. Es erinnert an das Gute, das der Ewige dem Volk Israel zuteilwerden ließ, aber auch an die Widerspenstigkeit der Israeliten und die Bestrafung dafür. G’tt spricht zu Mosche und fordert ihn auf, auf den Berg Newo zu kommen. Von dort soll er auf das Land Israel schauen – betreten aber darf er es nicht.
5. Buch Mose 32, 1–52