Der Ewige hat uns Menschen einen freien Willen gegeben, damit können wir in unserem Verhalten wählen zwischen Gut und Böse. Nicht immer entscheiden wir uns jedoch für den richtigen Weg. Wie oft unterlassen wir es, Gutes zu tun und Böses zu meiden; und nicht immer geschieht dies absichtlich.
Manches war eigentlich gut gemeint, anderes ist unwissentlich geschehen, ohne dass wir es bemerkt haben, nicht nur in den Geboten, die für die Beziehung zwischen uns und dem Ewigen gelten, sondern gerade auch im menschlichen Miteinander.
mizwot Jom Kippur fordert uns dazu auf, uns ernsthaft mit unserem Tun und Lassen auseinanderzusetzen. Welche Mizwot haben wir missachtet? Wen sollten wir um Vergebung bitten? Und wem sollten wir verzeihen?
Mit einer oberflächlichen Bitte um Entschuldigung ist es nicht getan.
Ja, wie erlangt man überhaupt Vergebung? Vergebung ist kein Automatismus, und sie kann auch nicht erkauft werden. Sie muss erbeten werden, vom Ewigen, von den Mitmenschen. Dabei ist ein stellvertretendes Vergeben aus jüdischer Sicht nicht möglich, auch nicht durch einen Rabbiner oder eine Rabbinerin. Vergeben kann nur die Person, die das Unrecht selbst erlitten hat.
Auch ist es natürlich nicht mit einer oberflächlichen Bitte um Entschuldigung getan. Diese Bitte muss erkennen lassen, dass es einem auch tatsächlich leidtut, muss also auch wirklich ernst gemeint und nicht nur leichthin gesagt sein. Im Talmud finden wir dafür klare Vorgaben, auch dafür, wie oft man, möglichst vor Zeugen, um Vergebung bitten soll, wenn der oder die Geschädigte die Entschuldigung etwa nicht annehmen will.
groll Manch einer wartet zwar nur darauf, dass der andere kommt und sich entschuldigt, wie wir auch von Rabbi Zeira lesen, der vor dem Haus desjenigen hin und her ging, gegen den er einen Groll hegte, damit ihn der andere leichter um Verzeihung bitten konnte (Joma 87a).
Vielleicht hat sich derjenige aber auch gefragt, was Rabbi Zeira wohl von ihm will, da ihm gar nicht bewusst war, ihm etwas angetan zu haben. Möglicherweise dachte er sogar: Wie gut, dass Rabbi Zeira kommt, da kann er sich gleich bei mir entschuldigen.
Nicht immer ist uns bewusst, etwas gesagt oder getan zu haben, was einen anderen verletzt hat, und manchmal erfahren wir nie davon. Auch dies bringen wir in unseren Gebeten zu Jom Kippur vor den Ewigen, um von Ihm Vergebung zu erbitten für das, was uns unbewusst geblieben ist.
vergehen In unserer Gewissenserforschung unterscheiden wir zwischen Vergehen gegen andere Menschen und Vergehen gegen den Ewigen. Letztere vergibt Er, wenn wir uns an Ihn wenden, nämlich in aufrichtiger Reue, Teschuwa, und im Gebet, Tefila, und durch Zedaka, gute Taten. Im Fall von Vergehen gegen Mitmenschen erwartet Er vor einer Vergebung, dass wir uns zunächst mit den Betroffenen auseinandersetzen, was sicherlich der schwierigere Teil ist, zumindest subjektiv betrachtet.
Und doch sollen wir dabei bedenken, dass alle Vergehen gegen andere Menschen gleichzeitig auch Vergehen gegen den Ewigen sind. Schuf Er nicht den Menschen, männlich und weiblich, nach Seinem Bild? Und beinhalten die Mizwot nicht Gebote, die das Verhältnis zu unseren Mitmenschen betreffen, und andere, die das Verhältnis zum Ewigen betreffen? Wir sollen sie nicht aus Angst vor Strafe erfüllen, sondern aus Liebe und Ehrfurcht Ihm gegenüber.
Und wenn wir diejenigen sind, die das Unrecht erlitten haben? Die Vorgabe ist klar: Wir sollen vergeben, auch um unserer selbst willen, um nicht von Groll und Rachegedanken zerfressen zu werden. Das klingt sehr einfach – der eine kommt, entschuldigt sich, will etwas wiedergutmachen, der andere nimmt es an, und so kommt es zur Versöhnung.
Man kann einen Verstorbenen auch
noch am Grab um Vergebung bitten.
Nimmt es der andere nicht an, obwohl er dreimal aufrichtig gebeten wurde, hat der Bittende seine Pflicht aus theologischer Sicht erfüllt. Und wenn ein Geschädigter nicht vergeben will – womöglich nicht vergeben kann, weil das Erlittene zu groß, ja zu schrecklich ist?
Es gibt Situationen, in denen nach menschlichem Verständnis ein Vergeben kaum vorstellbar ist. Manchmal ist der Betroffene auch gar nicht mehr am Leben, sei es nun die Schuld dessen, der um Vergebung nachsucht, oder sei er aus anderen Gründen gestorben. Doch man kann auch noch am Grab den Verstorbenen um Vergebung bitten (Joma 87a), wenn diese auch nicht mehr direkt gewährt werden kann. Hier kann sich dessen am Ende nur der Ewige selbst annehmen.
umkehr Nun soll man freilich nicht erst bis Jom Kippur warten, um sich dann schnell noch um eine Aussöhnung zu bemühen. Rabbi Elieser sagte: Kehr einen einzigen Tag vor deinem Tod um! Die Schüler fragten ihn: Weiß denn der Mensch den Tag, an dem er sterben wird? Der Rabbi antwortete: Darum kehre er heute um, denn vielleicht muss er morgen sterben; also wird er all seine Tage in Umkehr leben.
Jom Kippur steht, nach den Tagen der Selbsterforschung und dem ernsthaften Fragen nach unserer Verantwortlichkeit für uns selbst und für unsere Mitmenschen, als Höhepunkt am Ende der zehn Jamim Nora’im, der ehrfurchtserfüllten Tage.
Teschuwa, Umkehr, bedeutet aber auch, dass unser guter Wille nicht auf diesen Tag beschränkt bleibt, sondern uns durch das neue Jahr hindurch begleitet.
Die Autorin ist Rabbinerin der liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).