In Franz Kafkas Prosatext Vor dem Gesetz verlangt ein »Mann vom Lande« Eintritt zum Gesetz. Für Leser, die mit jüdischen Texten vertraut sind, ist die Anspielung auf den »Am haAretz« offensichtlich. Der Prager Schriftsteller kannte diesen Begriff, der im Talmud Menschen ohne tiefere jüdische Bildung meint. So schrieb Kafka am 29. November 1911 in sein Tagebuch: »Aus dem Talmud: Geht ein Gelehrter auf Brautschau, so soll er sich einen amhorez mitnehmen, da er zu sehr in seine Gelehrsamkeit versenkt das Notwendige nicht merken würde.«
Kafka verwendet die jiddische Variante des Begriffs und bezieht sich auf einen Abschnitt aus dem Traktat Bawa Batra (168a): »Abaje sagte: Ein Toragelehrter, der sich mit einer Frau verloben will, sollte ein(en) Am haAretz mitnehmen, damit man nicht eine andere Frau gegen sie austauscht.« Gemeint ist, dass Gelehrte Frauen nicht genau anschauen, und so könnte der Gelehrte sich mit der falschen Frau verloben. Der Am haAretz bemerkt das »Notwendige«.
Kafka hörte sich in Prag Vorträge an, nutzte für seine Weiterbildung in rabbinischer Literatur aber auch Bücher wie Jakob Fromers Der Organismus des Judentums. Darüber hinaus lernte er von seinen Freund Jiří Mordechai Langer, einem Baal Tschuwa, der sich dem chassidischen Judentum angeschlossen hatte, viel über die jüdische Mystik. Langers Bruder František deutet im Vorwort zu einem Buch an, Jiří erinnere an Gregor Samsa aus Kafkas Erzählung Die Verwandlung. Durch seinen neuen Lebensstil war Jiří Mordechai Langer wohl der »Käfer« in der Familie.
Der Talmud kennt keine so drastische Verwandlung eines Menschen in physischer Form, aber die von Tieren. In Bawa Kamma (16a) heißt es: »Eine männliche Hyäne verwandelt sich nach sieben Jahren in eine insektenfressende Fledermaus; diese verwandelt sich nach sieben Jahren in eine pflanzenfressende Fledermaus; diese verwandelt sich nach sieben Jahren in eine Distel; diese verwandelt sich nach sieben Jahren in eine Brombeere; und diese verwandelt sich nach sieben Jahren in einen Dämon. In ähnlicher Weise verwandelt sich die Wirbelsäule eines Menschen sieben Jahre nach seinem Tod in eine Schlange.«
Im biblischen Buch Daniel (4,22) wird über Nebukadnezar gesagt, dass er sich in ein Tier verwandeln würde.
Im biblischen Buch Daniel (4,22) wird über Nebukadnezar gesagt, dass er sich in ein Tier verwandeln würde: »Man wird dich ausstoßen von den Menschen, denn bei den Tieren des Feldes wird deine Wohnung sein, und Gras gleich den Stieren wird man dich essen lassen, und vom Tau des Himmels wird man dich netzen; so werden sieben Jahreszeiten ablaufen über dir, bis du erkennst, dass ein Höchster über das Reich des Menschen schaltet, und wem er gewillt, es verleiht.«
Veränderungen, ja Verwandlungen, im Wesen einer Person kennt der Talmud hingegen schon. Ein drastisches Beispiel ist Rabbi Elischa ben Awuja, der später »Acher«, der Andere, genannt wurde. Der Talmud zitiert seine Standpunkte an mehreren Stellen. Aber Rabbi Elischa verlässt später das Judentum, und der Talmud nennt auch den Grund: Er sah fromme Menschen leiden. Rabbi Elischa wurde Zeuge davon, wie die Römer »Chuzpit, den Übersetzer« hinrichteten und auf die Straße warfen. Der Talmud berichtet: »Einige sagen, er (Elischa) sah die Zunge von Chuzpit, dem Übersetzer, wie sie von etwas anderem (gemeint ist ein Schwein) durch die Straße gezogen wurde. Ein Mund, aus dem Perlen hervorkamen, soll nun Schmutz auflecken? Da wurde er zum Häretiker« (Kidduschin 39b).
So wie bei Kafka sind auch im Talmud Parabeln zu finden. Etwa jene vom Fuchs, der am Flussufer entlangging und sah, dass die Fische ständig in Bewegung sind. »Wovor flieht ihr?« Darauf antworteten die Fische: »Wir fliehen vor den Netzen, die die Menschen auf uns werfen.« Da antwortete der Fuchs: »Kommt doch aufs trockene Land, wir werden zusammenwohnen.« Die Fische antworteten: »Du bist derjenige, von dem man sagt, er sei das klügste aller Tiere? Du bist nicht klug; du bist ein Narr. Wenn wir im Wasser, dem Raum, der uns das Leben schenkt, Angst haben, dann erst recht in einem Lebensraum, der uns den Tod bringt« (Berachot 61b). Heute gibt es kaum »Türhüter« vor dem jüdischen Wissen. Doch die Verbindungen können erkundet werden.