Am Schabbat Chol haMoed Pessach wird traditionell das Hohelied (Schir haSchirim) gelesen. Der Verfasser ist König Salomon, Schlomo haMelech, der uns als großer König Israels gut bekannt ist. Die heiligen Schriften erzählen, dass er weiser als irgendein anderer Mensch vor und nach ihm war. In einer vollkommenen Erkenntnis des Transzendenten verbindet Schlomo haMelech das Materielle, Emotionale, Spirituelle und erschafft das poetische Liebeslied Schir haSchirim über seine Verbindung und die Verbindung des jüdischen Volkes zu Haschem, unserem G’tt.
braut Diese Verbindung ist jedoch spannenderweise nicht dauerhaft. Fünf Perioden der engen Beziehung zwischen Haschem und unserem Volk wechseln mit vier Zeitspannen der Trennung. So erwähnt Schlomo haMelech in Schir haSchirim fünf Mal die innige Liebe zwischen dem Geliebten, Haschem, und seiner Braut, dem jüdischen Volk.
Aus unseren Quellen wissen wir, dass Schir haSchirim in einer Phase der besonderen Nähe zu Haschem geschaffen wurde. Schlomo haMelech schreibt es, als der Beit haMikdasch, der Tempel, gerade gebaut wird. Es herrscht zu jener Zeit eine außergewöhnliche Harmonie sowohl zwischen höheren Sphären als auch der irdischen Welt. Die Geschichte, wie König Schlomo den Platz für den Bau des Tempels findet, veranschaulicht das vorbildliche Verhalten der Menschen aus jener Zeit.
Reichtümer Schlomo haMelech hat von seinem Vater David große Reichtümer geerbt und ihm auf dem Sterbebett versprochen, den Tempel zu bauen. Doch bei allen Versuchen, ein Fundament zu legen, trat ein Unglück ein. So wandelte der König oft schlaflos in Jeruschalajim umher, voller Sorge, sein Versprechen nicht erfüllen zu können. In einer Nacht kam er zum Fuß des Berges Moria und lehnte sich in herzzerreißender Trostlosigkeit an den Stamm eines Olivenbaums. Vor ihm lag ein Feld, auf dem frisch geschnittene, duftende Weizengarben zusammengebunden standen. Auf einmal hörte der König ein Geraschel und sah einen Mann, der sich hastig ein großes Weizenbündel schnappte und davonlief. Auf dem Nachbarfeld abgestellt, kam er zurück, und der Vorgang wiederholte sich einige Male.
Als er schließlich davonlief, war Schlomo außer sich vor Wut und Scham. Er nahm sich vor, den Mann am nächsten Tag zu finden und zu bestrafen. Gerade als er gehen wollte, erschien jedoch ein zweiter Bauer. Auch dieser Mann ergriff Weizengarben und trug sie in großer Hast zurück, genau auf das Feld, von dem zuvor der andere gestohlen hatte.
Entschlossen, am nächsten Tag die beiden Diebe zu suchen, stand der König auf, doch dann hörte er die Stimme eines Vogels, die ihm sagte, nichts zu unternehmen, sondern in der nächsten Nacht wiederzukommen, denn dann soll ihm der Platz für den Bau des Beit haMikdasch gezeigt werden.
Wie auf glühenden Kohlen verbrachte er den Tag und kam in der Nacht wieder heimlich zum Berg Moria zurück. Genau um Mitternacht bemerkte er zuerst den einen, dann aber auch den anderen Bauer. Beide Männer huschten durch die Felder, bereits mit gestohlenen Garben beladen. Gegenüber dem Olivenbaum prallten sie aufeinander. Entsetzt ließen sie die Garben fallen und blickten sich an. Der König sprang auf, um Gewalt zu verhindern, doch die Männer umarmten einander und weinten.
Sie waren zwei Brüder, die von ihrem Vater je die Hälfte des Feldes geerbt hatten. Der Ältere, der schon viele Kinder hatte, stellte die Garben zum Jüngeren, weil er dachte, dieser brauche mehr Weizen, um seine Feldarbeiter zu bezahlen, da er ja noch keine Frau und Kinder hatte, die ihm halfen.
Verbundenheit Der jüngere Bruder seinerseits dachte, der Ältere würde mehr Weizen brauchen, um seine große Familie zu ernähren. Als Schlomo haMelech diese wahrhaftige Liebe und Verbundenheit sah, kaufte er die Felder sehr großzügig ab und ließ dort die Fundamente des Beit haMikdasch legen. Kein weiteres Unglück hielt den Bau mehr auf.
Wir leben gerade in einer Zeit der Trennung. Nächstenliebe, Genügsamkeit, Bescheidenheit, Reinheit, Heiligkeit sind keine geläufigen Begriffe im Alltag. Sie kommen höchstens in Fantasy-Geschichten oder Filmen über die alten Zeiten vor. Sie werden belächelt oder gar verachtet, obwohl kaum jemand mehr erklären kann, was sie wirklich bedeuten.
Doch auch heute ist jeder Mensch imstande, sich von seiner rein irdischen Abhängigkeit zu befreien. Die Hilfsmittel dazu gibt uns die Halacha. Jedes kleine Gesetz hilft einem jüdischen Menschen, sich im Rahmen der Dinge, die erlaubt sind, zu Höherem emporzuheben, um einen höheren Grad an Keduscha, Heiligkeit, zu erreichen.
Gefühle Mag das Unterbewusste kaum zu kontrollieren sein, können wir doch unsere Gedanken, Gefühle, Taten bewusst wahrnehmen und analysieren. Wenn man sich darin übt, braucht man nur noch das Gefühl der Nähe zu Haschem, um schon auf dem richtigen Weg zu sein. Dann können jedes Wort, jede Bewegung, jedes Essen, jede Arbeit, jeder Spaziergang und jeder Genuss im Zeichen der Keduscha stehen.
Die größte Keduscha kann erreicht werden, wenn Liebe im Spiel ist. Unsere Weisen lehren uns, dass Schir haSchirim das heiligste Werk unserer Schriften ist, weil es Ausdruck inniger Zuneigung zwischen zwei Liebenden ist. Die Liebe ist stärker als alle menschlichen Regungen auf Erden.
So wird das Hohelied, das Lied der Lieder, zum Symbol der unendlichen Liebe zwischen dem Volk Israel und Haschem. Nichts auf der Welt kann diese Liebe entzweien: nicht die Galut, nicht die Inquisition, nicht die Emanzipation, nicht der Kommunismus, nicht die Assimilation – und die Konsumgesellschaft wird es auch nicht schaffen.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Potsdam.