Die Parascha Wajera beginnt mit einer Verheißung, und sie endet mit einer Verheißung. Dazwischen liegen Lachen und Weinen, manchmal der gleichen Person, manchmal von Gegnern; und durch die ganze Parascha hindurch zieht sich als Leitmotiv das Opfer.
Lot ist bereit, seine beiden Töchter dem wütenden Mob auszuliefern, um seine Gäste zu schützen. Seine Töchter legen ihre Selbstachtung ab, um durch ihren eigenen Vater Nachkommen in die Welt zu setzen. Lots Frau verliert ihr Leben, weil sie ihren zurückgelassenen Besitz nicht loslassen kann. Sara gibt ihren Status als Ehefrau auf, um ihren Mann Awraham vor Awimelech und seinen Leuten zu schützen. Awraham trennt sich von Hagar und dem gemeinsamen Sohn Jischmael um des Hausfriedens willen; und schließlich ist er sogar bereit, seinen Sohn Jizchak zu opfern.
Gastrecht Was sind das für verstörende Geschichten! Und doch, wenn man genau hinschaut, so hat jede dieser Begebenheiten noch eine andere Seite: Lot achtet das Gastrecht, das für ihn als so heilig gilt, dass die eigene Person, die eigenen Bedürfnisse dahinter zurückstehen müssen. Lots Töchter sind der Meinung, es sei außer ihrer engsten Familie niemand mehr übrig auf der Welt, und sie wollen doch, dass es weitergeht mit der Menschheit – das ist ein zweites Leitmotiv unserer Parascha: die Sicherung des Überlebens. Sie brechen dabei ein Tabu, aber eigentlich kein biblisches Gesetz. Die biblischen Inzestgesetze sprechen nicht ausdrücklich davon, dass Beziehungen zwischen Vater und Tochter verboten seien – möglicherweise deswegen, weil dies ohnehin ein klares Tabu war.
Und Lots Frau? Es ist nicht klar, ob sie von dem Befehl, sich nicht umzudrehen, überhaupt gewusst hat. Der Text sagt »Al tabit acharecha«, das heißt, die Aufforderung erging an Lot, der selbst ja auch erst einmal von den Boten des Herrn mit sanfter Gewalt zum Fliehen veranlasst werden musste. Und wenn sie es gewusst hat – wonach hat sie sich umgedreht, wirklich zu ihrem zurückgelassenen Besitz? Oder zu den Menschen, die sie zurückgelassen hat in der brennenden Stadt? Der Midrasch sagt sogar, sie habe sich nach ihren beiden Töchtern umgedreht, um sicherzugehen, dass sie wirklich mit ihr zusammen flohen.
nachricht Eine interessante Begebenheit kommt nun ins Spiel: Awraham und Sara kommen zu Awimelech; und Awraham bittet Sara noch einmal, wie er es bereits in Ägypten getan hatte, sich als seine Schwester auszugeben. Was steckt dahinter? Vergessen wir nicht: Zu Beginn von Wajera überbringen die Boten des Ewigen dem Awraham eine Nachricht, die aber eigentlich für Sara bestimmt ist – denn sie vergewissern sich, dass Sara im Zelt, also in Hörweite ist: Übers Jahr wird Sara einen Sohn haben. Und Sara lacht ...
In Lech Lecha war die Verheißung an Awraham ergangen, und der hatte auch gelacht, er fiel vor Lachen sogar »auf sein Gesicht«, wie es heißt. Dort war zum ersten Mal die Rede vom Namen »Jizchak« (»er lachte«) für den verheißenen Sohn. Sara lacht, längst ist sie in der Menopause, und außerdem gehören zur Empfängnis zwei.
Auch wenn sie es nur »bei sich gedacht« und nicht laut ausgesprochen haben mag, Awraham hat es mitbekommen. »Nein, du hast doch gelacht!« Hat er selbst das zu Sara gesagt, oder war es einer der Boten, oder gar der Ewige? Gesagt wurde es, und es gab Awraham zu denken; denn diesmal hatte es nicht geheißen, Sara wird von dir einen Sohn haben, sondern deine Frau Sara wird einen Sohn haben.
Awimelech Und nun kommen beide nach Gerar, wo Awimelech als König herrscht. Awraham denkt an die Episode in Ägypten – das war damals gerade noch gut ausgegangen; der Ewige hatte Sara beschützt. Warum sollte es diesmal nicht wieder so sein? Und doch, vielleicht hat Awraham, so ganz insgeheim, noch an etwas anderes gedacht. Sara war offenbar immer noch eine schöne Frau, und der König von Gerar war sicherlich auch um einiges jünger als Awraham. Dass Awimelech eben nicht der Vater von Jizchak war, wird in der Tora übrigens eigens betont.
Und dann kommt die Akedat Jizchak. Wir lesen sie jedes Jahr zweimal, doch will mir nicht in den Sinn, was Awraham da getan hat. Am Anfang mag er ja noch seine Zweifel gehabt haben. Doch dann? »Da stand Awraham des Morgens früh auf«; er nimmt Knechte, Esel, Feuerholz und seinen Sohn Jizchak und macht sich auf den Weg. Sicherlich mit schwerem Herzen, aber – er geht.
rettung Ist das der Mann, der mit dem Ewigen um die Rettung von Sodom und Amorra verhandelt hat? Derselbe Mann, der nicht einverstanden war damit, Hagar und Jischmael in die Wüste zu schicken? Er sagt nichts. Absolut nichts. Und Jizchak sagt auch nichts mehr, nachdem er von seinem Vater die Auskunft erhalten hat: »Der Ewige wird sich ein Opfer ersehen.«
Ein Pijut von Rabbi Jehuda ben Schmu’el füllt in eindrucksvoller, tief anrührender Weise diese »Lücke« im Text, die wir hier haben: Was Jizchak zu seinem Vater gesagt haben mag, was wohl auf dem Berg passiert ist, als Awraham seinen Sohn zum Opfer vorbereitet hat: Bringt meiner Mutter die Kunde, ihr Sohn sei zu Feuer und zur Beute des Opfermessers geworden (...), bring ihr, was von mir an Asche übrig geblieben ist, sag ihr, das ist der Wohlgeruch des Opfers von Jizchak.
Es ist unfassbar. Konnte der Ewige, gelobt sei Er, das gewollt haben? Raschi gibt uns einen tröstlichen Hinweis: Der Ewige habe zu Awraham nicht gesagt, er solle Jizchak schlachten, sondern er solle ihn hinaufbringen (auf den Berg, zum Ewigen). Und da er ihn hinaufgebracht habe, solle er ihn jetzt auch wieder hinabbringen. Oder kann es sein, dass es das Gebet von Jizchak war, das vom Ewigen erhört wurde? Als Jischmael am Verdursten war und seine Mutter Hagar verzweifelt weinte, da erhörte der Ewige die Stimme des Knaben, wie es heißt, nicht etwa das Weinen seiner Mutter.
Leid Alles hat zwei Seiten – auch das Opfer. Warum wir bereit sind, ein Opfer, unser Opfer zu bringen, weiß nur der Ewige. Er weiß es besser als wir selbst. Und manchmal verursacht unser so gut gemeintes Opfer einem anderen Unrecht und Leid.
Ein moderner Midrasch, der die Beziehung herstellt zwischen der – jeweils abgewendeten – Lebensgefahr von Jizchak und Jischmael und dem Tod der beiden älteren Söhne von Jaakows Sohn Jehuda, lässt den dritten Sohn sich bitterlich beklagen, dass er Tamar, die Witwe seiner beiden Brüder, nicht heiraten durfte und daher die Generationenfolge nicht weiterführen konnte. Stattdessen war sein Vater selbst mit Tamar zusammen –, der Sohn denkt, sein Vater habe dies getan, weil er ihn, den jüngsten Sohn, hasse – während sein Vater Jehuda denkt, er habe seine eigene Ehre geopfert, als er mit Tamar die Zwillinge zeugte, dafür, dass nicht auch sein jüngster Sohn sterbe, sondern am Leben bleibe, weil er ihn doch lieb hat.
Genauso ist es auch in unserem Leben heute: Manchmal wollen wir etwas besonders gut machen, aber es gerät zum Schaden. Manchmal glauben wir, ein anderer will uns Schaden oder Leid zufügen, während der andere es eigentlich gut mit uns meint. Wenn wir schon die Beweggründe unserer Mitmenschen oft nicht verstehen, um wie viel schwerer ist es, die Absichten, den Willen des Ewigen zu begreifen.
Möge Er uns helfen, Seinen Willen in unserem Leben zu erkennen – und zu tun!
Die Autorin ist Rabbinerin der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Wajera erzählt davon, wie Awraham von drei göttlichen Boten Besuch bekommt. Sie teilen ihm mit, dass Sara einen Sohn zur Welt bringen wird. Awraham versucht, den Ewigen von seinem Plan abzubringen, die Städte Sodom und Amorra zu zerstören. Lot und seine beiden Töchter entgehen der Zerstörung, seine Frau jedoch erstarrt zu einer Salzsäule. Später zeugt der betrunkene Lot mit seinen Töchtern Kinder. Awimelech, der König zu Gerar, nimmt Sara zur Frau, nachdem Awraham behauptet hat, sie sei seine Schwester. Dem alten Ehepaar Awraham und Sara wird ein Sohn geboren: Jizchak. Hagar und ihr Sohn Jischmael werden fortgeschickt. Am Ende der Parascha prüft der Ewige Awraham: Er befiehlt ihm, Jizchak zu opfern.
1. Buch Mose 18,1 – 22,24