Sterbehilfe

Verpflichtung zum Leben

Schmerzstillende Medikamente in einem deutschen Hospiz: Die Verpflichtung, das Leben zu erhalten (Pikuach Nefesch), steht in der Halacha neben dem absoluten Tötungsverbot. Foto: imago

Die Beihilfe zur Selbsttötung von Schwerstkranken, bei denen keine Hoffnung auf Linderung besteht, ist in Deutschland nicht strafbar. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hatte zu Beginn der Legislaturperiode den Anstoß gegeben, diese »Gesetzeslücke« rasch zu schließen – doch bei den Sozialdemokraten wachsen Zweifel, ob sie tatsächlich ein generelles Sterbehilfeverbot anstreben sollen.

Als Arzt einer Palliativstation steht man in Gesprächen immer wieder Argumenten für und gegen Sterbehilfe gegenüber – und je tiefer man in die Thematik eindringt, desto schwieriger wird sie. In den Fällen, in denen ich persönlich gefragt wurde, ob ich als Arzt helfen könne, das Leben zu verkürzen, war die Frage eher appellativ gemeint und aus der Sorge formuliert, das Lebensende könnte mit einem Verlust der Würde einhergehen. Immer steckte die Angst dahinter, die Autonomie zu verlieren, die Kontrolle über das Geschehen – und die Sorge, einer unmenschlichen Apparatemedizin ausgeliefert zu sein oder der Gesellschaft zur Last zu fallen.

Kontrolle Dieses Bedürfnis, letztlich die Kontrolle über das eigene Leben zu behalten, erklärt auch, warum im amerikanischen Bundesstaat Oregon, wo der ärztlich assistierte Suizid unter strengen Regelungen zulässig ist, viele Menschen, denen das tödliche Medikament bereitgestellt wird, es dann doch nicht einsetzen. Den allermeisten genügt es, zu wissen, das Leben selbst beenden zu können. Aber legitimiert das Bedürfnis nach Autonomie und Kontrolle den assistierten Suizid?

Um die ethische Tragweite zu erfassen und einen eigenen Standpunkt zu formulieren, ist es für einen Juden hilfreich und wichtig, an die Haltung der jüdischen Überlieferung zu diesen Grenzfragen zu erinnern. Nach der Halacha, die im Leben eine dem Menschen anvertraute »Leihgabe« von Heiligkeit und absolutem Wert sieht, ist die Frage nach der Zulässigkeit eines assistierten Suizids eindeutig mit Nein zu beantworten. Dem Menschen steht die absolute Kontrolle über das Leben – in dem Sinne, es beenden zu dürfen – nicht zu.

Am absoluten Wert des Lebens ist laut Halacha nicht durch Relativierungen, wie etwa den Verweis auf eine nur noch kurze Lebenserwartung, großes Leid oder fehlende »Lebensqualität«, zu rütteln. Oder um es mit einem Zitat des jüdischen Philosophen Jeschajahu Leibowitz zu sagen: »Die Frage, ob ein Leben lebenswert ist, darf es nicht geben.«

verbot Dies unterscheidet die säkular-ethische Diskussion über Sterbehilfe von der halachisch-moralischen Diskussion. Denn das mehrfach in der Tora betonte Tötungsverbot bezieht auch das Verbot der Selbsttötung ein. Damit ist, anders als im säkularen Rechtsverständnis, auch die Beihilfe zum Suizid verboten.

Die Beihilfe wird im jüdischen Verständnis sogar als noch schwerwiegender eingeschätzt als der Selbstmord. Für den Todeswunsch des leidenden Kranken kann man Verständnis haben, auch wenn dieser Wunsch halachisch unzulässig ist, weil der Kranke durch sein Leiden in seinem Denken stark beeinträchtigt ist. Der gesunde Außenstehende und vor allem der Arzt hat in der jüdischen Lehre die Pflicht, dem Kranken beizustehen, sein Leiden zu mindern, sein Leben zu erhalten und ihn von seinem Todeswunsch abzubringen. Gemäß dem 3. Buch Mose 19,14 (»... vor einen Blinden sollst du keinen Anstoß legen ...«) ist es verwerflich, den durch sein Leiden Verblendeten im Ausführen von etwas Verbotenem zu bestärken und zu unterstützen, statt ihn davon abzuhalten.

Die Verpflichtung, das Leben zu erhalten (Pikuach Nefesch), steht neben dem absoluten Tötungsverbot und gilt für das eigene Leben wie auch für das der anderen. Diese biblische Verpflichtung gibt dem ärztlichen Beruf eine besondere Bedeutung und Verpflichtung. Einem jüdischen Arzt stellt sich also die Frage, ob das vom Patienten gewünschte Einstellen lebensverlängernder Maßnahmen als Suizidbeihilfe interpretiert werden kann, auch aus halachischer Sicht.

»Goses« Wo hört ärztliche Behandlung auf, Lebensverlängerung zu sein, und wo beginnt sie, Verzögern oder Verlängern des Sterbens zu werden? Hier zu unterscheiden, ist heikel, zumal der »Goses«, also der Moribunde, mit dessen Tod innerhalb von 72 Stunden zu rechnen ist, in jeder Hinsicht als Lebender anzusehen ist. Im außerkanonischen Mischnatraktat Semachot wird ausdrücklich verboten, einen Goses zu berühren, da dies seinen Tod beschleunigen könnte, so wie eine Berührung eine flackernde Kerze auslöschen könnte. Daher rührt die jüdische Tradition, Sterbende nicht anzufassen – außer, um ihr Leid zu lindern, etwa ihren trockenen Mund zu befeuchten.

In jedem Falle aber ist es die Pflicht des Arztes, Schmerzen und Leid zu lindern, also palliativmedizinisch tätig zu sein. Das Judentum sieht, anders als das Christentum, keinen eigenen Wert im Leiden und argumentiert nur aufgrund der Verpflichtung zum Leben gegen die Sterbehilfe.

Die Präzedenzfälle aus Talmud und Midrasch und Erklärungen aus dem Schulchan Aruch (Jore Deah) zu diesen Fragen werden je nach Denomination der jeweiligen jüdischen Medizinethiker in den modernen Responsa unterschiedlich betrachtet.

In Ketubot 104a berichtet der Talmud vom Tod des Rabbi Jehuda haNassi, der an einer qualvollen Darmerkrankung starb. Seine Magd flehte, nachdem sie zunächst vergebens für seine Heilung gebetet hatte, schließlich um seine Erlösung durch den Tod. Doch seine Schüler beteten dafür, dass er weiterleben solle. Da ließ die Magd einen Tonkrug vom obersten Stockwerk in die Tiefe fallen, sodass er mit Lärm zerbrach. Das ließ die Schüler so erschrecken, dass sie für einen Moment mit ihren Gebeten innehielten, worauf die Seele des Rabbis verschied. Die aktive Handlung der Magd wird im Talmud jedoch nicht als Akt gesehen, der das Leben verkürzt, sondern als Maßnahme, die das unnötige Hinauszögern des Todes beendet.

Salzkristalle Ähnlich wie in Gebeten sah man in talmudischer Zeit bis ins Mittelalter auch in rhythmischen Geräuschen und dem Einlegen von Salzkristallen unter die Zunge Maßnahmen, die geeignet waren, den Tod hinauszuzögern. Im 13. Jahrhundert schrieb der Talmudgelehrte Rabbi Jehuda HaChasid in seinem Werk Sefer Chasidim, dass man einen Menschen, der in der Nähe eines Goses Holz hackt, auffordern soll, damit aufzuhören, damit das rhythmische Geräusch des Holzhackens den Tod nicht weiter hinauszögern soll.

Rabbi Mosche Isserles (genannt Rema) schreibt, dass man einen Goses berühren darf, um ihm ein Salzkristall unter der Zunge zu entfernen, das ihn am Sterben hindert. Sind die Beatmungsgeräte, die Dialysemaschinen, Medikamente, die künstlich einen Kreislauf aufrechterhalten, die Salzkristalle und rhythmischen Geräusche unserer Zeit?

Märtyrer In der Schilderung der Umstände des Todes des Märtyrers Rabbi Chania ben Teradion, der brutal von den Römern hingerichtet wurde, arbeitet der Talmud (Awoda Sara 18a) das Thema des Verkürzens des Lebens versus unnötiges Hinauszögern des Todes gut heraus.

Die Römer wickelten Rabbi Chania in eine Gesetzesrolle ein, umgaben ihn mit Holz und zündeten es an. Um seine Qualen zu verlängern, legten sie kühlende, in Wasser getränkte Wollsträhnen auf sein Herz. Als seine Schüler es nicht ertrugen, seine Qualen anzusehen, riefen sie ihm zu, er solle seinen Mund öffnen und durch Einatmen des heißen Rauches seinen Tod beschleunigen. Dies lehnte Rabbi Chania ab, weil es dem Selbstmord gleichkäme und Sünde sei, sein Sterben aktiv selbst zu beschleunigen. Der römische Exekutor nahm daraufhin die wassergetränkte Wolle von Chania, um den Eintritt des Todes nicht weiter zu verzögern.

Der Talmud zeigt uns, dass das aktive Verkürzen des Lebens (bewusstes Einatmen des heißen Rauchs) verboten ist, das Beenden des unmenschlichen Verlängerns des Sterbeprozesses (durch Wegnehmen der nassen Wolle) indes geboten. Diese Lehre müssen wir auf die moderne Medizin übertragen.

angst Wenn der Wunsch nach Sterbehilfe bei manchen Menschen entsteht, weil sie die zum Teil berechtigte Angst haben, durch eine inhumane Medizin mit überambitionierten Maßnahmen am Sterben gehindert zu werden, wäre die jüdische Antwort darauf, dass die Halacha ohnehin das künstliche Verlängern des Sterbens untersagt.

Allerdings brauchen wir klare Kriterien, nach denen zu unterscheiden ist, welche Methoden der modernen Medizin im jeweiligen Kontext der vorgeschriebenen Erhaltung des Lebens dienen, und welche als ungebotenes Hinauszögern des Todes zu unterlassen sind. Wenn Symptome, die die etablierten Methoden der Medizin nicht lindern können, bei einem Kranken den Wunsch nach Sterbehilfe entstehen lassen, ist er verständlich und darf nicht verurteilt werden. Diesen »Wunsch nach Erlösung« zu verstehen und den Menschen, die sich einen schnelleren Tod wünschen, mit Verständnis zu begegnen, heißt nicht, dass man deren Wunsch auch rechtfertigt und legitimiert.

sedierung
Für mich ist die Antwort in diesen Situationen bislang immer die »palliative Sedierung« gewesen, und ich bin glücklich, dass ich damit bis jetzt immer das Gefühl haben durfte, zu helfen und eine Alternative zum Wunsch nach Sterbehilfe anbieten zu können. Palliative Sedierung heißt, dass man dem Kranken oder qualvoll Sterbenden Medikamente gibt, die ihn schlafen lassen und ihn vom bewussten Wahrnehmen seiner Qualen abschirmen.

Dadurch wird, wie durch adäquate Schmerztherapie mit Morphium, das Leben aber nicht verkürzt. Auf die Frage, wie ein Arzt angesichts eines Patienten, der in aussichtsloser, qualvoller Situation sei, zu handeln habe, antwortete der bereits zitierte Jeschajahu Leibowitz: »Ich frage mich selbst und kann mir keine Antwort geben, was ich als Arzt tun würde. Ich würde mit Sicherheit nicht zu jemandem gehen und ihn um Rat fragen, ob Sterbehilfe erlaubt ist.«

Der Autor ist leitender Oberarzt für Palliativmedizin am Klinikum Bielefeld und stellvertretender Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde »Beit Tikwa«.

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