Als ein Symbol des Bösen haben der Jerusalemer Religionswissenschaftler Ephraim Chamiel und andere Autoren das Volk der Amalekiter bezeichnet, von dem in der Tora an verschiedenen Stellen die Rede ist. Im Wochenabschnitt Beschalach lesen wir über Amaleks Angriff auf die Israeliten und wie es Jehoschuas Kriegern in der Schlacht zu Refidim gelang, die Aggressoren zu schwächen (2. Buch Mose 17, 8–16).
Im Wochenabschnitt Ki Teze heißt es nun: »Gedenke, was dir Amalek getan auf dem Weg bei eurem Auszug aus Ägypten, wie er dich überfiel (...) und hinter dir die Schwachen erschlug, (...) eben als du matt und müde warst, und fürchtete Gott nicht. Und es soll geschehen, wenn der Ewige, dein Gott, dir Ruhe schafft von all deinen Feinden ringsherum in dem Land, das der Ewige, dein Gott, dir als Besitz gibt, es einzunehmen, sollst du auslöschen das Gedächtnis Amaleks unter dem Himmel. Vergiss dies nicht!« (5. Buch Mose 25, 17–19).
Nach der Auffassung von Maimonides, dem Rambam (1135–1204), die allerdings nicht unumstritten ist, finden sich in der zitierten Passage drei der 613 Mizwot. Es handelt sich um zwei positive Gebote und um ein Verbot: 1.) Wir sollen die Aggression der Amalekiter in Erinnerung behalten und 2.) dieses unmenschlich-grausame Volk zur gegebenen Zeit vernichten. 3.) Es ist es verboten, Amaleks Untaten zu vergessen.
VErnichtung Wie steht es um die Erfüllung dieser drei Mizwot in der Gegenwart? Heute können wir nur noch zwei davon erfüllen: gedenken und nicht vergessen. Die vorgeschriebene Vernichtung Amaleks hingegen ist, wie viele Halachisten festgestellt haben, seit mehr als 2000 Jahren nicht mehr möglich. Das liegt daran, dass das Volk Amalek nicht mehr zu identifizieren ist. Denn im Talmud steht, dass König Sanherib von Assyrien bereits alle Völker durcheinandergemischt hat (Berachot 28a und Joma 54a).
Völlig zu Recht bemerkte Rabbiner Joseph Herman Hertz (1872–1946) in seinem Torakommentar: »Amalek ist dahingeschwunden, aber sein Geist lebt noch auf Erden fort.« Kein Wunder, dass Juden verschiedene Gruppen, die eine Zerstörung des Judentums in ihr Programm aufgenommen haben, »Amalek« genannt haben. Wir verdanken Rabbiner Benjamin Schlomo Hamburger eine Aufzählung derjenigen Völker, denen man zu irgendeinem Zeitpunkt den Titel »Amalek« gegeben hat. Die Liste ist lang.
Bräuche Wie gesagt, wir können das Toragebot der Auslöschung Amaleks heute nicht mehr erfüllen. Doch es haben sich Bräuche entwickelt, die man als harmlose Ersatzformen des Vernichtungsgebots deuten kann. In dem Buch Das jüdische Jahr von Elijahu Kitow finden sich folgende zwei Beispiele: »Man hatte es sich früher zur Gewohnheit gemacht, die Feder, mit der man schreiben wollte, zu prüfen. Man schrieb die Buchstaben des Wortes ›Amalek‹ und versuchte dann, mit der gleichen Feder die geschriebenen Buchstaben wieder auszustreichen, bis der Name unleserlich wurde. Dies, um die Mizwa ›Macho timche‹ (›sollst du auslöschen‹) zu erfüllen. Andere pflegten die Buchstaben des Wortes ›Amalek‹ auf die Sohlen ihrer neuen Schuhe zu schreiben, bevor sie sie zum ersten Mal anzogen. Damit traten sie dann kräftig auf den Boden, um den Namen zu verwischen.«
Heute erfüllen wir das erwähnte Gebot »Gedenke, was dir Amalek getan«, indem wir im Rahmen des Gottesdienstes die letzten drei Verse des Wochenabschnitts Ki Teze aus der Tora vorlesen. Der Verfasser des Sefer HaChinuch – sein Name ist nicht überliefert – hat das Gedenken an den Auszug aus Ägypten mit dem Gedenken an die Untat Amaleks verglichen. Er führt aus, dass der Erlösung aus dem Haus der Knechtschaft täglich gedacht werden muss, denn es handelt sich um einen Glaubensgrundsatz. Hingegen genüge es, einmal pro Jahr an Amaleks Bosheit zu erinnern, um dieses historische Ereignis nicht zu vergessen.
In Wirklichkeit lesen wir den Abschnitt »Gedenke, was dir Amalek getan« zwei Mal im Jahr: einmal im Rahmen der wöchentlichen Toralesungen und ein weiteres Mal am Schabbat vor Purim, der deshalb »Schabbat Sachor« genannt wird. Manche Juden sagen jeden Tag nach dem Morgengebet sechs Erinnerungsgebote auf, darunter auch die drei Verse über Amalek. Aus diesem Grund sind die sechs Passagen aus der Tora auch in manchen Gebetsbüchern abgedruckt.
Gewalt Der Auszug aus Ägypten lehrt uns, dass der Ewige in die Geschichte der Menschen eingreift und dass Er Sein auserwähltes Volk erlöst und beschützt. Welche Lehre können wir aus der Geschichte von Amalek ziehen? Eine Antwort lautet: dass es Menschen gibt, die mit Gewalt den Plan Gottes zu vereiteln suchen. Zwar misslingt ihr aberwitziges Projekt, doch finden sie eifrige Nachfolger. In der Schrift heißt es: »Und er sprach: Denn die Hand am Thron Gottes, Krieg des Ewigen wider Amalek von Geschlecht zu Geschlecht« (2. Buch Mose 17,16).
Könnte Gott das böse Volk Amalek nicht mit einem Schlag beseitigen und das lästige Problem damit aus der Welt schaffen? Rabbiner Meir Schlesinger hat auf diese Frage folgendermaßen geantwortet: Der Allmächtige hätte dies gewiss bewerkstelligen können, doch Er ist offensichtlich an der Existenz von Amalek interessiert. Gott hat, wie wir wissen, auch das Böse erschaffen (Jesaja 45,7). Warum? Damit der Mensch es bekämpfe und überwinde!
Um als Juden zu überleben, müssen wir uns gegen Antisemiten und Terroristen jeder Art wehren und stets wachsam sein. Wenn wir uns Amaleks Unmenschlichkeit vor Augen führen, wissen wir, wozu mordlüsterne und anti-religiöse Menschen fähig sind. Und es wird deutlich, welche Ideologie und politische Praxis zu meiden sind. Amalek, Symbol des Bösen, zeigt uns eine Möglichkeit des menschlichen Verhaltens. Dass auch Juden der Gefahr erliegen können, amalekitische Verhaltensweisen zu praktizieren, hebt Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) in seinem Kommentar zum Verbot »Vergiss dies nicht!« ausdrücklich hervor. Wir sollen nicht wie Amalek gottlos sein und die eigene Überlegenheit zum Schaden der Mitmenschen ausspielen.
Damit wir diese mahnende Lehre nicht vergessen, hat die Tora uns geboten, Amaleks Geschichte von Zeit zu Zeit zu lesen.
Der Autor ist Psychologe und hat an der Universität Köln gelehrt. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Verknüpfungspunkte« (2010).
Inhalt
Im Wochenabschnitt Ki Teze werden Verordnungen wiederholt, die Familie, Tiere und Besitz betreffen. Dann folgen Verordnungen zum Zusammenleben in einer Gesellschaft, wie etwa Gesetze zu verbotenen sexuellen Beziehungen, dem Verhalten gegenüber Nicht-Israeliten, Schwüren und der Ehescheidung. Es schließen sich Details zu Darlehen, dem korrekten Umgang mit Maßen und Gewichten sowie Sozialgesetze an.
5. Buch Mose 21,10 – 25,19