Es war ein heißer Sommertag im Heiligen Land, an dem die römischen Legionen den langen und mühsamen Kämpfen um Jerusalem ein Ende setzten und den Tempel, das letzte Bollwerk der Aufständischen, verbrannten. Unzählige Menschen ausgerottet, Abertausende in die Sklaverei verkauft, Jerusalem dem Erdboden gleichgemacht. Die gewöhnlichen Maßnahmen der römischen Weltmacht in einer kleinen unbedeutenden Südprovinz des Reiches nach einem unverständlich langen Aufruhr. Nun soll hier für alle Zeiten Ruhe sein.
Es ist langer her, seit sich diese tragischen Ereignisse abgespielt haben, doch wir vergessen sie nicht. Das Beweinen der Zerstörung des Tempels am 9. Tag des Monats Aw (diesmal am kommenden Dienstag, 20. Juli), stammt nicht aus einer nostalgischen Sehnsucht nach Pracht und Wohlstand der Vergangenheit. Es ist vielmehr die gefühlte Diskrepanz zwischen der eigenen Berufung, »das Königtum der Priester und das heilige Volk« zu sein, und der Realität der Tatsachen, die durch das Prisma der Ereignisse dieses Tages viel deutlicher wird.
Ursachen Maimonides schreibt (Gesetze der Fasttage 5:1), dass Sinn und Zweck der Fasttage darin besteht, dass wir die Ursachen der Tragödien erforschen, sie auf unsere Realität projizieren und auf Tatbestand prüfen. Es ist keine Überraschung, dass der Talmud beschließt: Die Generation, in der der Tempel nicht wiederaufgebaut wurde, trägt die Mitschuld an seiner Zerstörung. Deutlicher kann es nicht sein: wer die Lehre der Geschichte nicht lernt, wird unausweichlich dieselben Fehler wiederholen!
Doch um welche Geschichte geht es? Die Kommentatoren verweisen auf die biblische Begebenheit der Kundschafter, die mit einem negativen Bericht aus dem gelobten Land zurückkehrten. Daraufhin weinte das Volk und entschied, dass es besser wäre, nach Ägypten zurückzukehren. (4. Buch Moses 14,1). Das Volk, das den glorreichen Auszug aus Ägypten und die monumentale Sinai-Offenbarung erlebt hatte, beweinte nun die Botschaft, dass angeblich das gelobte Land nicht zu erobern sei? Nein, die Angst vor der Freiheit und vor der Verantwortung für das eigene Leben war der wirkliche Grund für dieses Verhalten. Über diese bis in unsere Zeit bestehende Auffassung heißt es im Traktat Taanit (29a): »G’tt sagte ihnen: Ihr habt umsonst geweint, und ich werde euch für Generationen zu weinen geben«. Dieser Tag war der 9. Aw – der Tag der Zerstörung des ersten und zweiten Tempels.
Verantwortung Dieser Fehler, der algorithmisch in die geistige Substanz des Volkes an diesem Tag eingraviert wurde, verlor bis zum tragischen Tag der Tempelzerstörung nicht an Bedeutung. Es ist bekannt, dass der hauptsächliche Grund des Niederganges unbegründeter Hass war. Der Hass gegenüber anderen Menschen ist immer auch eine Erklärung des eigenen Unwillens, Verantwortung für das eigene Leben zu tragen. Er ist immer ein Zeugnis der Schwäche. Denn es ist viel einfacher, mit dem Finger auf andere zu zeigen, ihnen die Schuld in die Schuhe zu schieben, als Verantwortung zu tragen. Deshalb der gegenseitige Hass. Ein Phänomen, das auch uns so schmerzhaft bekannt vorkommt. Und deswegen bleibt der Tempel in Schutt und Asche. Und wir tragen die Mitschuld daran.
Es war ein heißer Sommertag, an dem die Zeit zum Stillstand gekommen ist. Und ein unauffälliger Beobachter auf einem der zahlreichen Hügel, die Jerusalem umgeben, würde staunen, wie ein Paradies auf Erden zugrunde geht, weil die Menschen vor den eignen unbegründeten Ängsten – und in dessen Folge in unbegründetem Hass – kapitulierten. Denn sie haben die Lehre aus der Geschichte wieder vergessen.
Und er würde sich weinend ausmalen, wie die Menschen an diesem Tag, als die Sonne zum Horizont hinuntersank, sich in den Schatten der Olivenbäume niedersetzen konnten, um den Tag der Besinnung auszukosten und sich auf eine neue Stufe des inneren Fortschritts vorzubereiten, die der nächste Tag mit sich bringen würde. Denn sie haben die Lehre aus der Geschichte wieder vergessen. Doch die Zeit stand still, und der nächste Tag wurde im Blut ertränkt. Die Leute haben sich selbst durch die Vergesslichkeit des Lebens ihres Glücks und ihrer Harmonie beraubt. An diesem heißen Sommertag.
Der Autor ist Rabbinerstudent an der »Yeshivas Beis Zion« in Berlin.