Schawuot ist mit einem Feiertag in Israel und zwei Feiertagen in der Diaspora das kürzeste der drei biblischen Wallfahrtsfeste. Pessach und Sukkot dauern jeweils eine Woche; dennoch nimmt ausgerechnet das Schawuotfest die meiste Zeit für die geistigen Vorbereitungen in Anspruch.
Eine Erklärung dafür ist, dass das Volk Israel durch die jahrhundertelange Verweildauer in Ägypten auf die 49. Stufe der spirituellen Unreinheit gesunken war. Gleich nach dem Auszug an Pessach muss es daher jeden Tag eine weitere Stufe der Reinheit erklimmen – insgesamt 49 Tage. Sogar die Vorbereitungen auf Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag und Versöhnungstag, brauchen weniger Zeit, nämlich nur 40 Tage ab Beginn des Monats Elul.
Jom Kippur Ein weiterer markanter Unterschied zwischen Schawuot und Jom Kippur besteht darin, dass an Jom Kippur die Tage der Vorbereitungsphase vor Jom Kippur nicht ausdrücklich gezählt werden. Vor Schawuot gebietet uns dagegen die Tora, ab dem zweiten Tag von Pessach jeden Tag das »Omer« (wörtlich »Garbe«) zu zählen.
Auch gibt es vor Jom Kippur keine drei Tage der Beschränkung, wie sie anlässlich der Gabe der Tora am Berg Sinai erwähnt werden: »Und der Ewige sprach zu Mosche: Geh zu dem Volke und heilige es heute und morgen, und dass sie ihre Gewänder waschen und bereit seien zum dritten Tage, denn am dritten Tage wird der Ewige niedersteigen vor den Augen des ganzen Volkes auf den Berg Sinai« (2. Buch Mose 19, 10–11).
Die Vorbereitung auf Schawuot dauert 49 Tage – länger als die Zeit der Umkehr vor Jom Kippur.
Viel merkwürdiger ist jedoch die Tatsache, dass in der gesamten Tora das Schawuotfest zwar ein halbes Dutzend verschiedene Namen hat, aber dass keiner dieser Namen auf die Gabe der Tora hindeutet. Es sind nur die Weisen, die dieses Fest »Sman matan Toratejnu« (Tag der Übergabe unserer Tora) nennen.
All diese Besonderheiten weisen auf die enorme Bedeutung von Schawuot hin. Dafür muss es einen guten Grund geben: Der berühmte Psalm 136, der an Schabbatot und jüdischen Festen rezitiert wird, beinhaltet 26 Verse, die alle gleich mit den Worten »Ki Leolam Chasdo« (»ewiglich währt Seine Gnade«) enden.
Generationen Rabbiner Joschua Ben Levi erläuterte im Talmud (Psachim 118a), dass sich diese Verse auf die 26 Generatio-nen von Adam bis Mosche beziehen, die der Ewige vor der Übergabe der Tora in Seiner Gnade ernährt hat.
Ferner erklären unsere Weisen, dass die Welt während dieser 26 Generationen nur aus Gnade des Ewigen existierte, denn die Menschen hatten keine Verdienste. Zudem entspricht 26 dem Zahlenwert des Namens des Ewigen, in dem der Ewige in der Eigenschaft der Gnade und Liebe in Erscheinung tritt.
Doch bei der Übergabe der Tora sind Gnade und Liebe G’ttes kaum spürbar, besonders bei der Betrachtung der Aussage von Rabbiner Evdemi Bar Chama Bar Chasa im Talmud (Schabbat 88a) zum Vers 2. Buch Mose 19,17 (»und sie stellten sich am Fuß des Berges auf«).
Kübel Daraus folgert der Weise, dass der Ewige den Berg wie einen Kübel über das Volk stülpte und zu den Israeliten sprach: Wollt ihr die Tora empfangen, so ist es gut. Falls aber nicht, so ist hier euer Grab. Diese drohende Anweisung, die Tora unbedingt an die Menschen weiterzugeben, wird durch die Erzählung von Resch Lakisch im Talmud (Schabbat 88a) deutlicher.
Er erwähnt eine Vereinbarung zwischen G’tt und Seinem Schöpfungswerk, wonach der Ewige die Bedingung aufstellte: Nehmt ihr, also die Israeliten, die Tora an, so sollt ihr (und die gesamte Schöpfung) bestehen. Falls nicht, so verwandele Ich euch wieder in Öde und Leere.
Von der Eigenschaft der Gnade des Ewigen konnten also 26 Generationen profitieren und existierten, ohne eigene Verdienste vorzuweisen. Doch der Kredit endete mit der 26. Generation. Bereits Awraham, der sechs Generationen vor der Schenkung der Tora lebte, begriff, dass die Menschen sich an der Erhaltung der Welt beteiligen müssen.
Die Geschichte hat gezeigt, dass es nicht ausreicht, nur einen Gerechten in der jeweiligen Generation zu haben, wie zum Beispiel Noach, sondern dass ein ganzes Volk sich dieser Aufgabe widmen muss. So beschloss Awraham, die Lehre G’ttes in die Welt zu tragen, und nahm die Seelen, die sie sich zu eigen gemacht hatten, in das Land Kanaan mit (1. Buch Mose 12,5).
Sklaven In der ägyptischen Sklaverei formierte sich die Familie Israels (Jakow) zum Volk. Erst, als die Zahl 600.000 erreicht wurde, zog das Volk Israel von der Fronarbeit in der ägyptischen Gefangenschaft in die Freiheit und Dienste des Ewigen. Der Sohar (ein grundlegendes kabbalistisches Werk) entschlüsselte die Buchstaben des Namens Israel als »jesch schischim ribo otiot latora« – es gibt 600.000 Buchstaben in der Tora. Damit hat Israel die »kritische Masse« erreicht, kann die Tora fassen und anfangen, Verdienste zu erwerben.
Da kein Volk an der Lehre Interesse zeigte, war Israel die letzte Chance für den Ewigen.
Ein berühmter Midrasch erzählt, dass der Ewige zu allen Völkern ging und Seine Tora anbot, jedoch keines der Völker sie annehmen wollte. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass der Ewige allen Völkern mitteilte, dies sei die einzige Möglichkeit, das Weiterbestehen der Welt zu sichern.
Zwang Da kein Volk an der Tora interessiert war, war Israel die letzte Chance für den Ewigen. Deshalb musste ein gewisser Zwang ausgeübt werden, damit wenigstens ein Volk die Tora annimmt und die Welt anfängt, durch die angesammelten Verdienste zu bestehen.
Und obwohl unsere Bereitschaft, die Tora anzunehmen, erzwungen war, ist die Antwort »Naase we nischma« (»Wir werden tun und hören«), die das Volk Israel dem Ewigen gab, doch vorbildlich und wird unserem Volk hoch angerechnet.
Maharal aus Prag (ein bedeutender Gelehrter des 16. Jahrhunderts) folgert, dass es verschiedene Arten des Zwangs (Nötigung) gibt. Neben dem physischen gibt es auch den moralischen Zwang. Maharal entwickelt diesen Gedanken weiter und kommt zu dem Ergebnis, dass Israel aus moralischer Verpflichtung heraus gehandelt hat und dem Bund mit dem Ewigen zustimmte wie ein Mann mit einem Herz (Raschi-Kommentar zum 2. Buch Mose 19,2).
Organe Im Kusari von Rabbi Jehuda Halevi aus dem 12. Jahrhundert wird Israel unter den Völkern mit einem Herzen unter allen Organen verglichen. Man sieht das Herz nicht, weiß aber, dass der Körper mit all seinen Organen nicht überleben wird, sollte es aufhören zu schlagen.
Deshalb lebt das Volk Israel seit 3331 Jahren nach der Tora, erfüllt die Gebote und studiert fleißig das Wort G’ttes. Alle Organe können sich gelegentlich ausruhen, jedoch das Herz muss immer schlagen. Und wie man beim Arzt den Zustand des Patienten an seinem Puls abliest, erkennt man den Zustand der Welt an der Intensität der Einhaltung der Tora und der Gebote des Volkes Israel.
Jom Kippur ist ein heiliger Tag, jedoch geht es bei Jom Kippur vor allem um das persönliche Schicksal des Menschen und des Volkes im neuen Jahr. An Schawuot dagegen geht es um das Weiterbestehen der Welt, denn sollte das Volk Israel für einen Augenblick mit der Einhaltung der Tora aufhören, würde die Welt, das ganze Universum, zu »Tohu Wawohu«, ins Chaos, zurückkehren.
Verpflichtung Um dieser moralischen Verpflichtung nachzugehen, bedarf es logischerweise mehr Vorbereitung als auf Jom Kippur. Gerade in diesen 49 Tagen widmen wir uns dem Studium der Pirkej Awot, der Sprüche der Väter, mit der ganzen väterlichen Moral, die uns noch einmal deutlich macht, welche wichtige Aufgabe wir in dieser Welt erfüllen.
Daher kann Schawuot nicht wie Pessach oder Sukkot eine Woche lang gefeiert werden, denn wir müssen unser Versprechen, das am Berg Sinai gegeben wurde, erfüllen und das Tun (»Naase«) in den Vordergrund stellen.
Die Tatsache, dass die Tora gebietet, das Omer aufwärts zu zählen, hat schon viele kluge Köpfe beschäftigt, denn die Menschen machen es eigentlich umgekehrt. Wenn es darum geht, ein wichtiges Ereignis (zum Beispiel einen Geburtstag oder eine Hochzeit) herbeizusehnen, werden die Tage rückwärts gezählt.
An Schawuot geht es um das Weiterbestehen des Universums. Ohne Tora wäre nur Chaos.
Die Omerzählung aber ist aufwärts, weil nicht Schawuot das eigentliche Ziel ist. Denn die Schenkung der Tora ist genauso wie der Auszug aus Ägypten nur eine weitere Etappe zum eigentlichen Ziel: der Erhaltung der Welt durch die Menschen anhand eigener Verdienste.
Mondsonde Vermutlich haben die meisten den Countdown beim Start der Mondsonde Beresheet Ende Februar dieses Jahres mitverfolgt. Doch Schawuot ist kein Raketenstart, sondern ein sachter Übergang vom »Chesed-Antrieb« zum »Tora-Antrieb«. Seit 3331 Jahren treibt die Tora die Welt an und erzeugt die nötige Energie für das gesamte Universum.
Der Neue Sohar 12a zitiert eine Meinung, nach der der Ewige zuallererst das Licht erschaffen hat, das der Ursprung der Schöpfung war. Auch die Tora wird in den Schriften Licht genannt (Mischlej 6,23) (»ki ner Mizwa we Tora Or« – »denn eine Leuchte ist Gebot, und Tora Licht«), und sie ersetzt das Urlicht.
Nun ist es an uns, die nötige Energie aufzubringen, um die Tora zu studieren und ihre Gebote zu erfüllen. Chag Schawuot Sameach!
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).