Tikkun Olam

Verantwortung für die Welt

Die Taten des Menschen, mögen sie klein oder groß sein, beeinflussen das Weltgeschehen. Foto: Thinkstock

Wenn ich an Rosch Haschana und Jom Kippur denke, erscheint ein Bild vor meinen Augen, das noch aus meiner Kindheit stammen muss: Ich sehe eine Waage, die vor dem Schöpfer der Welt steht. Auf der einen Waagschale liegen die Sünden und Freveltaten, auf der zweiten Schale die Gebote und guten Taten des Menschen. Aber ist dieses Bild realistisch? Notiert der Heilige denn wirklich jeden kleinen Fehler, den wir begehen?

Auf der Welt gibt es verschiedene Ebenen der Führung. Staatsmänner und Manager müssen mit ihren Taten für Frieden, Ordnung und Wohlstand auf der Welt sorgen. Auf der anderen Seite müssen die Menschen aber auch selbst dafür sorgen, dass ihr Leben richtig verläuft.

Also ist auf der Welt eine zusätzliche »Leitung« gefragt: Der Mensch muss sich um einen ordentlichen Lebensstil bemühen. Er sollte gesund essen, gut lernen, fleißig arbeiten und ein rechtmäßiges Leben führen. Auf beiden Ebenen, der öffentlichen und privaten, müssen sich Menschen an Rosch Haschana und Jom Kippur vor dem Ewigen rechtfertigen – denn das Wohl der Allgemeinheit und das Wohl des Einzelnen hängen eng zusammen.

Rechtsprechung Wir betrachten die »Jamim Noraim«, die Hohen Feiertage, als Tage der Rechtsprechung. An das Gebet fügen wir das Zusatzgebet Mussaf an und beten mit großer Hingabe das Unetane Tokef: »Wahrheit ist es, dass du Richter bist, der zurechtweist, der weiß und Zeuge ist, der schreibt und besiegelt, zählt und berechnet; du gedenkst alles Vergessenen, du öffnest das Buch des Gedenkens, und aus ihm wird vorgelesen, und die Unterschrift eines jeden Menschen ist darin enthalten.«

Zum Verständnis von Rosch Haschana und Jom Kippur müssen wir viele Grundsätze des jüdischen Glaubens verbinden. Einer der bedeutendsten ist das Thema Belohnung und Bestrafung. Aus den 13 Glaubenssätzen des Maimonides entnehmen wir den elften: »Ich glaube von ganzem Herzen, dass der Schöpfer, gelobt sei sein Name, wohl vergilt all denen, die seine Gebote erfüllen, und übel tut denen, die seine Gebote brechen.«

Jede Tat, die ein Mensch in seinem Leben vollbringt, hat Bedeutung – manchmal eine positive, andere Male eine negative. Nur selten sind unsere Taten bedeutungslos. Jede Tat, die wir tun, hat Folgen für uns oder andere. Die Tora schreibt: »Siehe, ich lege euch heute Segen und Fluch vor: Den Segen, wenn ihr auf die Gebote des Ewigen hört … Den Fluch aber, wenn ihr nicht auf die Gebote hört und vom Weg weichet« (5. Buch Mose 11, 26–27).

Lebensweg Dem Menschen werden zwei Wege vorgeschlagen, unter denen er nach Gutdünken wählen kann. Doch bereits im Voraus wird ihm klargemacht, dass seine Wahl seinen gesamten künftigen Lebensweg beeinflussen wird. Wer auf die Stimme des Ewigen hört, wandelt auf einem gesegneten Weg; wer sie ignoriert, dessen Weg zieht ungute Konsequenzen nach sich.

Beschränkt sich jedes Bemühen eines Juden auf der Welt nur auf das exakte Einhalten dieses oder jenes Gebotes? Werde ich an Rosch Haschana und Jom Kippur allein dafür gerichtet, oder hat der Ewige ein allgemeines, ein höheres Ziel, für dessen Erfüllung ich mich einzusetzen habe?

Achan Eine der faszinierendsten Geschichten ereignete sich beim Einzug des Volkes Israel in das Land Kenaan: die Sünde von Achan. Im Rahmen des Kriegs um die Landnahme, bei der Eroberung der Stadt Ai, wurde dem Volk untersagt, irgendetwas aus der Beute an sich zu nehmen.

Achan jedoch konnte der Verlockung nicht widerstehen und nahm sich ein schönes Kleid, das er gefunden hatte. Sein Frevel hatte zur Folge, dass das jüdische Volk in einem der wichtigsten Kriege bei der Landnahme eine Niederlage erlitt. Wegen der Fehltat eines einzelnen Mannes verlor das Volk eine Schlacht. Der Ewige wandte sich an Jehoschua, den Führer, und sagte zu ihm: »Gesündigt hat Jisrael!« Der Frevel von Achan beeinflusste also die Situation des gesamten Volkes Israel.

Alejnu Achan ist nicht sehr berühmt. Vor seinem Tod jedoch schrieb er – so sagt die Tradition – einen Teil eines Gebetes, das sehr bekannt ist. Am Ende jedes Gebets sagen wir das »Alejnu leschabe’ach«, das Jehoschua verfasst hat.

Der zweite Teil dieses Gebets, der mit den Worten beginnt: »We al-ken nekawe«, stammt von Achan. In diesem Gebet ruft er zur großen Beweisführung auf und fordert von uns, »die Welt zu berichtigen als Reich des Allmächtigen« – »letaken Olam bemalchut Schadaj«.

Der gewöhnliche Mensch lebt nur für sich allein und denkt vor allem an sich. Doch Egoismus ist nicht der richtige Weg. Die Taten des Menschen sind keine Frage der Lebensweise des Individuums gegenüber dem Allmächtigen. Die Taten des Menschen, mögen sie klein oder groß sein, beeinflussen das Weltgeschehen.

Das Thema Belohnung und Bestrafung ist im Judentum keine Frage des Individuums, die sich auf einen Menschen und dessen Lebensumstände bezieht, sondern sie betrifft das ganze Judentum, ja die gesamte Welt.

Versprechen Rabbi Jehuda Halevi nimmt in seinem Werk Der Kuzari (1, 97–99) auf die Frage von Belohnung und Bestrafung Bezug und vergleicht Religionen, die dem Menschen substanzielle Belohnungen nach dessen Tod versprechen, mit dem Judentum. Halevi bemerkt, dass die Tora nicht verspricht: »Wenn du alle Gebote erfüllst, werde ich dich nach deinem Tod in Gärten und Orte des Vergnügens bringen.« Stattdessen steht in der Tora geschrieben: »So sollt ihr mir sein das erwählte Volk aus allen Völkern.«

Wer nach der Tora handelt und ihre Gebote hält, leistet seinen Beitrag dazu, dass das jüdische Volk die gesamte Welt auf eine höhere Ebene der Güte führt. Dabei erfährt die Welt sowohl in geistiger als auch als materieller Hinsicht Gutes. Die Tora erteilt dieses Versprechen bereits für diese Welt.

An Rosch Haschana und Jom Kippur werden unsere individuellen Taten abgewogen. Es besteht definitiv eine Verbindung zwischen den Taten eines einzelnen Menschen und deren Folgen für die Allgemeinheit. Unser Ziel vor dem Ewigen sollte sich nicht auf die Frage der persönlichen Existenz und die Annehmlichkeiten beschränken. Vielmehr müssen wir Tikkun Olam anstreben, eine weltweite Besserung oder Berichtigung auf allen Ebenen unseres Lebens. Dies ist im Sinne des Ewigen, der die Welt lenkt.

Der Autor ist Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz und Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund.

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