In seiner jüngsten Enzyklika »Fratelli tutti« (Alle Brüder) fordert der Papst eine radikale wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Wende. Franziskus beklagt »eine Zersplitterung« der Gesellschaft, die, zum Beispiel in der jetzt tobenden Pandemie, »die Unfähigkeit hinsichtlich eines gemeinsamen Handelns zum Vorschein« bringt.
Klagen Er beklagt aber auch »unzeitgemäße Konflikte«, »verbohrte, übertriebene, wütende und aggressive Nationalismen … mit neuen Formen des Egoismus und des Verlusts des Sozialempfindens«, ein »Desinteresse am Allgemeinwohl«, das »von der globalen Wirtschaft instrumentalisiert« wird, »welche die Einzelinteressen bevorzugt und die gemeinschaftliche Dimen-sion der Existenz schwächt«.
Schon Jeschajahu wusste, dass staatliche Gewalt unentbehrlich ist.
Ist diese Enzyklika ein »eindringlicher Appell für weltweite Solidarität und internationale Zusammenarbeit«, wie der Limburger Bischof Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, sie würdigt? Oder ist sie »sozialethisch und politisch unterkomplex«, gibt »theologisch … nicht viel her«, ein Musterbeispiel »religiösen Kitschs«, wie der Wiener evangelische Theologieprofessor Ulrich Körtner sie wahrnimmt?
Sie ist beides. Der Papst träumt von einer Utopie der menschlichen Solidarität. Er befürwortet eine links-solidarische Politik und vertritt einen radikalen Pazifismus. Körtner nennt dies eine für die reale Welt »politisch illusorische« und »friedens-ethisch fahrlässige« Einstellung, »weil sich der Papst die Welt schönredet und seine utopische neue Welt theologisch nicht vom Reich Gottes zu unterscheiden weiß«.
Maschiach Der Pazifismus von Franziskus erinnert zwar an die Prophezeiung des Propheten Jeschajahu: »Da wird der Wolf bei dem Lämmlein wohnen, der Leopard bei dem Böcklein niederliegen; das Kalb, der junge Löwe und das Mastvieh werden beieinander sein, also dass ein kleiner Knabe sie treiben wird« (11,6).
Doch diese wird sich erst in den Zeiten des Maschiach erfüllen, folgt dieser Vers doch auf die Worte: »Es wird ein Spross aus dem Stamm Jischais hervorgehen und ein Schoß aus seinen Wurzeln hervorbrechen« (11,1).
Dieser Spross aus dem Zweig Jischais, also der Maschiach, wird »die Armen mit Gerechtigkeit richten und den Elenden im Land ein unparteiisches Urteil sprechen; er wird die Welt mit dem Stab seines Mundes schlagen und den Gottlosen mit dem Odem seiner Lippen töten« (11,4).
Im Gegensatz zur Enzyklika des Papstes ist Jeschajahus Prophezeiung besser verankert in der realen Welt. Denn anders als Franziskus weiß der Prophet, dass notwendige staatliche Gewalt – durch den Maschiach – für die Bewahrung von Frieden und Gerechtigkeit im Diesseits unentbehrlich ist. Oder wie der – vermutlich letzte – stellvertretende Hohepriester Rabbi Chanina lehrte: »Bete für das Wohl der Regierung, denn ohne sie würde ein Mensch seinen nächsten lebendig verschlingen« (Sprüche der Väter 3,2).
Anders als der Papst kann ich auch nicht erkennen, dass eine fehlende globale gesellschaftliche Einheit während der Pandemie »die Unfähigkeit hinsichtlich eines gemeinsamen Handelns zum Vorschein« bringt.
Die vorübergehenden Einschränkungen der Reisefreiheit waren unter den Umständen einer sich rasch verbreitenden Pandemie durchaus notwendig. Und angesichts der Kritik an der Weltgesundheitsorganisation, die am Anfang vermutlich viel zu langsam auf die Pandemie reagierte, ist es sicherlich nicht angesagt, die Gesundheitsfürsorge komplett internationalen Gremien anzuvertrauen.
Nach Medienberichten arbeiten derzeit mehr als 40 Unternehmen in verschiedenen Ländern an der Entwicklung eines Impfstoffs. Dies lässt hoffen, dass ökonomisches Interesse die breite Verteilung des Impfstoffs befördern wird. Infektiöse Krankheiten wie Covid-19 unterscheiden schließlich nicht zwischen arm und reich.
Polarisierung Dennoch ist nicht zu leugnen, dass es unserer Welt, vor allem unserer politischen und ökonomischen Kultur nicht besonders gut geht. Unsere globale Gesellschaft ist tatsächlich zersplittert. Das traurige Musterbeispiel sind die Vereinigten Staaten, wo seit 20 Jahren die politische Polarisierung zunimmt. Immer weniger Initiativen werden von Mitgliedern der beiden großen Parteien getragen. Präsident Donald Trump hat diese Spannungen nicht verursacht, sondern er ist ein Symptom dieser Polarisierung. Ursache dieser immer extremer werdenden Polarisierung der Gesellschaft sind zum Teil die sozialen Medien. Wir reden immer weniger miteinander und zunehmend aneinander vorbei.
Dass es schwerfällt, eine breit getragene Politik zu gestalten für den Umweltschutz, die Bekämpfung von sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten und die Bekämpfung der Pandemie, ist eine Folge der politischen und sozialen Zersplitterung der Gesellschaft.
Das Judentum kann zu diesen Themen Denkanstöße geben, die nicht zu Franziskus’ Schlussfolgerungen führen. So bieten Schemitta (Schabbatjahr) und Jowel (Jubeljahr) Modelle dafür, die Exzesse des Kapitalismus zu mildern, ohne ihn gleich abzuschaffen.
Schabbatjahr Im Schabbatjahr waren die Felder allen zugänglich, konnten auch die Armen das feinste Obst essen. Schnuppererfahrungen lassen Menschen träumen und motivieren dazu, wirtschaftlich produktiv zu werden. Am Ende des Schabbatjahres wurden die Schulden, die nicht bezahlt werden konnten, aufgehoben, denn ohne die Möglichkeit, neu anzufangen, bekommen viele Menschen niemals eine wirtschaftliche Chance.
Während des Jowels, also alle 50 Jahre, wurden die Sklaven freigelassen, und Grund und Boden gingen an den ursprünglichen Besitzer zurück. Wenn wir eine solide Mittelschicht wollen, dann ist es unerlässlich, dass Wohnraum bezahlbar bleibt und jeder die Chance hat, wirtschaftlich aufzusteigen. Wir kennen zwar heute keine Sklaverei mehr, aber viel zu viele Menschen leben in derart prekären Verhältnissen und verdienen so wenig, dass sich ihre Existenz kaum von Sklaverei unterscheidet.
Die Tora wünscht sich mehr Solidarität. Doch anders als der Papst sieht sie diese Solidarität nicht in der Aufhebung der nationalen Identitäten. Auch nach dem Kommen des Maschiachs sprechen verschiedene Propheten Israels von einer Zukunft mit vielen Völkern.
Gebot Die Wohltätigkeit wird im Judentum vor allem als Solidarität mit den Menschen in der Nähe verstanden (»die Armen deiner Stadt kommen zuerst«, Talmud Bawa Mezia 71a). Das heißt nicht, dass wir uns mit weiter entfernt lebenden Menschen nicht solidarisch fühlen. Doch liegt dem jüdischen Gebot zugrunde, dass keiner allein bleibt, wenn jede Gesellschaft die Verantwortung für ihre eigenen Armen übernimmt.
Der Traum ist ähnlich, doch der Weg dorthin ein anderer. Der jüdisch-prophetische Weg erscheint mir realistischer.
Der Autor ist orthodoxer Rabbiner in Wien und Vorstandsmitglied der Europäischen Rabbinerkonferenz.