Torafreude

Untrennbar verwoben

Zu feiern, das bedeutet festzuhalten an dem, was wir sind und was uns ausmachtt: tanzende Beter an Simchat Tora 2023 im Jerusalemer Stadtteil Nachlaot

Kaum jemand, der jüdisch oder mit Israel verbunden ist, wird je vergessen, wo er oder sie erstmals von der Katastrophe des 7. Oktober 2023 erfahren hat. Besonders jene, die an jenem Tag, einem Schabbat und Schemini Azeret, aus religiösen Gründen keine elektronischen Medien nutzten, haben es oft über Umwege oder zeitverschoben vernommen.

Ich selbst hielt mich an diesem Tag in Israel auf, allerdings im Norden, wo es (damals noch) ruhig war. Der Schabbat fiel nicht nur mit dem Schlussfeiertag nach dem Sukkotfest zusammen, sondern in Israel ist ja dieser Tag zugleich auch noch Simchat Tora – während dieses Fest in der Diaspora am Tag darauf gefeiert wird.

An Simchat Tora dauert der Gottesdienst jeweils fast einen halben Tag, jeder Anwesende soll zur Tora aufgerufen werden, und es wird mit der heiligen Schriftrolle getanzt.

Obwohl alle Besucher orthodox waren, hatte einer von ihnen dennoch ein Telefon dabei, für den Notfall

Um Zeit für das Zusammensein mit der Familie zu haben, waren mein Sohn und ich zu einem sehr frühen Gottesdienst gegangen, etwa um sechs Uhr morgens. Und bekanntlich sind die frühesten Minjanim immer die kürzesten. Auch wir tanzten, auch bei uns wurde das ganze Programm absolviert, aber wir waren beizeiten fertig, wohl etwa gegen 9 Uhr.

Obwohl alle Besucher orthodox waren, hatte einer von ihnen dennoch ein Telefon dabei, weil er im Notfalldienst der Stadt engagiert ist und durchgehend erreichbar sein muss. Unmittelbar nach Beendigung des Gottesdienstes erhielt er einen Anruf, drehte sich kurz weg von der noch plaudernd zusammenstehenden Gruppe und führte ein Gespräch.

Nach kurzer Zeit wandte er uns wieder das Gesicht zu und erzählte, noch sehr bruchstückhaft, was man ihm berichtet hatte, in Worten, die angesichts des Schreckens, der erst im Laufe der kommenden Tage überhaupt bekannt wurde, fast lapidar klingen: »Im Süden hat es einen Überfall von Terroristen gegeben. Es wird geschossen. Raketen fliegen. Menschen liegen tot auf der Straße. Hier ist es noch ruhig, macht keine Panik, aber seid wachsam.«

Benommen gingen wir nach Hause. Erst später wurde uns in vollem Umfang klar, was alles in jenen Stunden geschehen war, während wir lächelnd und singend mit der Tora durch die Synagoge getanzt waren. Wir dürften zu den wenigen im ganzen Land gehört haben, die überhaupt noch unbeschwert und unwissend die Gebete des Feiertags zu Ende gebracht hatten.

Wir gehörten vor einem Jahr wohl zu den wenigen, die noch unbeschwert mit der Tora tanzten

Und nun stehen wir erneut vor diesem Feiertag, und vielen erscheint es vollkommen undenkbar, dass wir dieses Jahr, dass Angehörige unserer Generation überhaupt wieder irgendeinmal Simchat Tora feiern sollen, wie wir es früher getan haben.

Heißt es im Buch Esther, dass der Monat Adar, für den Haman die Vernichtung der Juden geplant hatte, sich »von Kummer zur Freude gedreht hatte«, worauf das Purimfest Teil des jüdischen Kalenders wurde, so ist an Simchat Tora des Jahres 5784 genau das Gegenteil geschehen. Die Freude hat sich in unaussprechbare Trauer verwandelt. Welche Schlüsse müssen wir daraus ziehen?

Halachisch gesehen scheint die Sache klar zu sein: Sich am Feiertag zu freuen, ist gemäß dem 5. Buch Mose 16,14 ausdrücklich Pflicht (wie es etwa auch Maimonides interpretiert). Hierin unterscheidet sich der Feiertag auch vom Schabbat, der das Einhalten der Ruhe­gebote und die Heiligung des Tages, aber keine ausdrückliche Freude erfordert.

Nun kann diese Festfreude sich in verschiedener Hinsicht äußern, wie die halachische Literatur feststellt, in gutem Essen, im Tragen neuer schöner Kleider und, ganz wichtig: im gemeinsamen Feiern. Wobei gerade Maimonides Wert darauf legt, dass »gemeinsam« nicht einfach nur heißt, die Familie um sich zu versammeln, sondern auch jenen die Tür zu öffnen, die zu arm oder zu einsam sind, um ein unbeschwertes Fest zu feiern.

Glossar-Eintrag
Azeret

»Azeret« kommt von der Wortwurzel »azar«, das bedeutet so viel wie aufhören, stocken oder etwas abschließen

Aber gerade bei Simchat Tora stellen sich tiefergehende Fragen. Ungeachtet dessen, dass dieser Name für das Fest relativ spät (im 11. Jahrhundert) aufkam, weil man in der Diaspora nach einer zusätzlichen Bedeutung für den zusätzlich angefügten Tag von Schemini Azeret gesucht hatte, steht gerade hier der Ausdruck »Freude« explizit im Namen, wird gerade hier eine Ausgelassenheit zelebriert, wie wir sie an den Feiertagen, außer an Purim, nie kennengelernt haben.

Doch vielleicht ist eben gerade Purim und die dort erfolgte Drehung vom Kummer zu Freude ein Schlüssel dafür, Simchat Tora auch dieses Jahr und in Zukunft feiern zu können. Purim ist das Symbol für die unvermittelten Wendungen des Schicksals und bleibt es. Denn keine Religion und keine Gemeinschaft hat wie das Judentum die kollektive Erfahrung gemacht, dass das Schicksal sich unerwartet wenden kann, zum Negativen wie auch zuweilen zum Positiven.

Dieser Wechselhaftigkeit, die jede Gemeinschaft irgendwann einmal aus dem Lot werfen kann, hat die Halacha und nicht zuletzt der jüdische Festkalender einen mächtigen Wall gegenübergestellt: Konstanz – manche würden auch, etwas negativer gefärbt, von Routine sprechen. An Pessach wird die Haggada gelesen und Mazza gegessen, an Purim gefeiert und getrunken, an Tischa beAw getrauert und gefastet, egal was um uns herum geschieht.

Ich selbst durfte mit meiner Familie innerhalb der zwölf Monate dieses Jahres voller Krieg und Gewalt die Geburt von zwei Enkeln feiern.

Diese Konstanz kann verstören. Zuweilen habe ich mich seltsam gefühlt, wenn ich an Tischa beAw in Jerusalem in einer prächtigen, modernen Synagoge saß, mitten in einer pulsierenden Millionenstadt, deren Immobilien Mondpreise erreichen, und wir auf niederen Schemeln hockend Trauerdichtungen darüber rezitierten, dass diese Stadt verödet und zerstört daläge.

Diese Konstanz kann aber eben auch Stabilität stiften, wo uns sonst der Boden unter den Füßen wegzubrechen droht. Entsprechend ist Simchat Tora in erster Linie die Freude darüber, dass wir es erneut geschafft haben, einen Zyklus der Tora zu beenden und einen neuen zu beginnen. Ob man dazu nach dem vergangenen Simchat Tora noch ausgelassen tanzen will und kann, das ist eine sehr private und individuelle Entscheidung.

Dass wir feiern, heißt aber keinesfalls, dass wir verdrängen, welch unsagbareren Horror unsere Brüder und Schwestern (und auch etliche nichtjüdische Menschen) am 7. Oktober letzten Jahres erleiden mussten – ganz abgesehen von denjenigen, die noch in Geiselhaft festgehalten werden und die verdienen, dass wir sie keinen Tag vergessen. Zu feiern heißt vielmehr, dass unser Festhalten an dem, was wir sind und was uns ausmacht, stärker ist als alles, was jene uns anzutun versuchen, die uns töten wollen – und die jeden und jede von uns mit Freude getötet hätten, hätten wir uns in diesem Augenblick gerade auch in jenen killing fields befunden.

Von Elie Wiesel lernen wir, dass das Einhalten von Geboten Gehorsam, aber auch Protest gegen Gott signalisieren kann – und zuweilen gar beides zusammen. Was immer auch dem jüdischen Volk widerfährt, wir bleiben unseren Routinen, die zugleich aber auch unser Lebenselixier sind, treu. Das Leben kann sich binnen Minuten vom Kummer zur Freude und von der Freude in tiefste Trauer drehen.

Und in all der Trauer und dem Entsetzen geschehen auch wunderbare Dinge. Ich selbst durfte mit meiner Familie innerhalb der zwölf Monate dieses Jahres voller Krieg und Gewalt die Geburt von zwei Enkeln feiern. Sie wurden in den Brit, in den Bund unseres Volkes mit Gott, aufgenommen, und wir sind es auch ihnen und all den anderen Kindern schuldig, dass dieser Bund nicht aufgekündigt wird, dass wir stärker sind und dieser Versuchung widerstehen.

Dass wir feiern, heißt keinesfalls, dass wir verdrängen

Interessanterweise ist gerade die Konstanz, mit der weitergemacht wird, auch wenn so vieles dagegenspräche, nicht ein Mittel des Verdrängens und Vergessens geworden, sondern hat aus dem Judentum im Gegenteil eine Religion des Gedenkens gemacht. Gerade weil wir weitermachen, vergessen wir nichts, wir integrieren das Erlebte und Erlittene in den Zyklus. Würden wir nicht mehr Simchat Tora feiern, so würden wir auch des 7. Oktober irgendwann nicht mehr im Kontext von Simchat Tora gedenken, doch dieser ist untrennbar damit verwoben. In gewisser Weise ist seit vergangenem Jahr das Feiern von Simchat Tora die authentischste jüdische Weise, genau dieses Gedenken zu pflegen.

So machen wir weiter, wissend um die unerwarteten Drehungen und Wendungen der Existenz, der privaten und der kollektiven, und am besten tun wir es im Sinne des Maimonides und laden an Simchat Tora dieses Jahr auch jene ein, denen es aus welchen Gründen auch immer unmöglich wäre, das Fest ohne uns adäquat zu begehen. Vielleicht bedeutet ein solches Zusammensein nicht nur für sie, sondern auch für uns am Ende eine ganz unerwartete Wendung »vom Kummer zur Freude«.

Der Autor ist Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an der Universität Basel.

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