In unserem Abschnitt geht es um die Abgabe des Zehnten: »Du sollst alle Jahre den Zehnten absondern allen Ertrages deiner Saat, der von deinem Acker kommt, und sollst davon essen vor dem Ewigen, deinem G’tt, an dem Ort, den er erwählt, dass sein Name daselbst wohne, nämlich vom Zehnten deines Getreides, deines Mostes, deines Öls und von der Erstgeburt deiner Rinder und deiner Schafe, auf dass du lernst, zu fürchten den Ewigen, deinen G’tt, dein Leben lang« (5. Buch Mose 14, 23–24).
Rabbi Abarbanel (1437–1508) erklärt: Mosche habe von Anfang an darauf geachtet, dass das Volk Israel G’tt an erster Stelle spirituell diene. Die Vorschriften, die die physische Dimension betreffen, sind dem nachgeordnet. Ihm ging es darum, das Volk dazu anzuleiten, G’tt von ganzer Seele lieben zu lernen. Um nichts anderes geht es Mosche nun auch am Ende seines Weges mit dem Volk, wenn er ihm die Abgabe des Zehnten einschärft. Das Materielle soll in den Dienst für das Erreichen des spirituellen Ziels genommen werden. Mit der Macht des dinglichen Vermögens soll der Mensch G’tt dienen.
Vermögen Rabbi Jitzchak ben Orma stellt fest, dass es dem Menschen naturgemäß schwerfällt zu geben. Er muss es lernen. So fällt auf, dass die Tora keinerlei Aussagen darüber macht, dass dem Menschen Grenzen gesetzt sind, die sein zu erstrebendes Vermögen betreffen. Aber sie äußert sich dazu, wie er mit seinem Vermögen umgehen soll.
Rabbi Abarbanel fragt nach dem besonderen Sinn dieser Abgabe des Zehnten, zumal der Gebende ausdrücklich aufgefordert wird, die Gabe selbst zu verspeisen. Er macht darauf aufmerksam, dass die Abgabe des Zehnten mit der Mizwa verbunden ist, sie nach Jerusalem zu bringen und sie dort vor G’tt zu essen. Es kommt also auf diesen Weg und das Ziel an. Wir könnten auch sagen, es geht hier um »learning by doing«. Im Gehen des Weges entwickelt sich G’ttesfurcht (Jirat Haschem), wie ja überhaupt alle Mizwot für das Himmelreich gegeben sind.
Rabbi Abarbanel fragt nach dem besonderen Sinn dieser Abgabe des Zehnten.
Materielles Der Autor des Sefer Hachinuch, Rabbi Aharon HaLevi aus Barcelona (1235– 1290), erklärt, G’tt habe das Volk Israel auserwählt, damit es sich mit der Tora beschäftige und der Name G’ttes durch seine Heiligung Anerkennung finde. Doch die Natur des Menschen ist auf die materiellen Dinge ausgerichtet. Das Toralernen wird dadurch erschwert und immer nur einen nachgeordneten Rang einnehmen. Aber durch den Pilgerweg nach Jerusalem wird der an sein materielles Vermögen gebundene Mensch auf den Weg gebracht und taucht unterwegs und am Ziel in eine andere, spirituelle Welt ein. In Jerusalem, im Tempel, lernt er, sich den Anforderungen der Tora auszusetzen, studiert sie und wird sein erworbenes Wissen nach seiner Rückkehr in der Familie weitervermitteln.
Der Rabbi von Wolochin weist auf einen weiteren Sinn der Abgabe des Zehnten hin: Da jeder in Israel verpflichtet ist, Tora und Talmud zu lernen, muss man auch darauf achten, finanzielle Unterstützung zum Toralernen zu geben.Rabbi Schlomo Alschech erklärt zu den Worten »damit du lernst«: Das normale Leben, bestehend aus Essen, Trinken und Lebensgenuss im weiteren Sinne, bringt den Menschen nicht zum Toralernen und nicht zur G’ttesfurcht.Wenn aber geschrieben stünde: »damit du lernst, dich zu mühen«, dann würden wir verstehen, dass nur der mühsame Weg nach und der Aufenthalt in Jerusalem einen Menschen der G’ttesfurcht näherbringt. Denn dort, wo G’tt seinen Namen wohnen lässt, soll er die Freude am Essen seines zweiten Zehnten genießen und sich von der Atmosphäre der Stadt und ihres G’ttesdienstes zum Toralernen inspirieren lassen.
Die Gabe des Zehnten ist nicht an sich heilig, sondern sie wird heilig.
Aber nun steht geschrieben, »damit du lernst, G’tt zu fürchten«. Diese Weisung bringt zum Ausdruck, dass die Mühen der Pilger, sich auf den Weg nach Jerusalem zu machen, am Ende zu dem von der Mizwa angestrebten Ziel führen werden. Durch ihre investierte Kraft und ihren Willen, die Gabe des Zehnten zum Tempel zu bringen, werden sie mit der Erkenntnis, dass sie G’ttesfurcht gewonnen und bewiesen haben, das Essen genießen können. Die Gabe des Zehnten ist also nicht an sich heilig, sondern sie wird heilig, weil sie den Pilger spirituell weitergebracht hat, näher bei G’tt zu sein.
Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).