Mobbing

Unser Versagen

Beschützt: Schulkind in einem religiösen Viertel Jerusalems Foto: Flash 90

Neulich fiel mir auf, dass ein Freund von mir, der Psychotherapeut ist, ziemlich deprimiert aussah. Ich weiß, dass er während des Tages eine Menge Kummer und Leid erfährt, aber normalerweise spiegelt sich der Schmerz seiner Patienten nicht in seinen Gesichtszügen. Ich fragte, was los sei, und er erwiderte, er komme gerade aus einer Therapiesitzung, in der ein Junge einen Zusammenbruch erlitt, als er beschrieb, wie er in einer Tora-Schule Tag für Tag terrorisiert wird.

Jetzt war ich es, der bestürzt reagierte. Was ich nicht verstehen konnte, war, wie ein Kind, das in einer frommen Umgebung aufwächst, es fertigbringt, tagein, tagaus einem anderen Kind Schmerzen zuzufügen. Ich konfrontierte eine Reihe von Bekannten mit dieser Frage, und sie sahen mich ob meiner Naivität alle mit großen Augen an. Jedes Problem, versicherten sie mir durch die Bank, das in der allgemeinen Gesellschaft existiert, gibt es ebenso in der Tora-Welt. So sei es nun mal.

Empirisch gesehen, haben sie sicherlich recht. Aber ich konnte mich nicht damit abfinden. Es gibt Verhaltensweisen, die einer Tora-Weltanschauung so sehr widersprechen, dass wir, wenn sie nicht als einzelne Taten, sondern als gesellschaftliches Phänomen in Erscheinung treten, eigentlich unsere Kleider zerreißen müssten.

Schmerzen Wenn Schüler ihre Klassenkameraden schikanieren, verweist das auf ein doppeltes erzieherisches Versagen. Zum einen haben wir versagt darin, unsere Kinder so zu erziehen, dass sie fähig zum Mitgefühl mit dem Leiden anderer sind. Die Tora mahnt uns wiederholt, den Fremden nicht zu unterdrücken, weil wir Fremde in Ägypten waren – mit anderen Worten, unser eigenes Leiden zu nutzen, um für das Leiden anderer Menschen empfänglich zu sein. Derjenige, der einem anderen Schmerzen zufügt, hat diese Fähigkeit des Mitfühlens verloren.

Es gibt aber noch ein zweites, subtileres Versagen, das auch damit zu tun hat. Es betrifft nicht diejenigen, die damit anfangen, ein ausgewähltes Opfer zu terrorisieren – das sind vergleichsweise wenige –, sondern die viel größere Gruppe jener, die zusehen und mitmachen, häufig aus Angst, dass sich die Schläger gegen sie wenden, wenn sie protestieren. Eine erfolgreiche Erziehung durch die Eltern heißt, dass wir den Kindern die Mittel an die Hand geben, mit deren Hilfe sie erkennen, was richtig ist, und danach handeln, auch wenn es bedeutet, gegen den Strom zu schwimmen. »Wir können nicht sicher sein, dass unsere Kinder alle unsere Werte erben«, sagte vor nicht langer Zeit ein weiser Tora-Gelehrter zu mir. »Das Mindeste, was wir tun können, ist zu versuchen, in ihnen einen starken Sinn dafür zu wecken, was richtig und was falsch ist, so dass sie, wenn es darauf ankommt, das Richtige tun.«

Werte Einer der Klassiker der amerikanischen Soziologie der 1950er-Jahre war das Buch The Lonely Crowd (Die einsame Menge) von David Reisman. Reisman unterscheidet zwischen Menschen, die sich an anderen orientieren, deren Verhalten hauptsächlich durch die Meinungen anderer Menschen beeinflusst wird, und Menschen, die sich auf sich selbst beziehen, deren Verhalten hauptsächlich eine Widerspiegelung ihrer eigenen inneren Werte ist. Auch im Jahr 1950 stellten die Menschen, die sich an anderen orientieren, die überwiegende Mehrheit.

Eine auf der Tradition der Tora gegründete Gesellschaft basiert auf gemeinsamen Werten, nicht darauf, dass jeder tut, was er für gut hält. Dennoch dürfen wir nie die Meinung unserer Nachbarn oder irgendeine gesellschaftliche Norm mit dem verwechseln, was die Tora von uns will. Für Eltern heißt das, dass sie ihren Kindern einen starken Sinn dafür, was richtig und was falsch ist, anerziehen müssen, nicht nur ein Gespür für die öffentliche Meinung. Wenn unsere Kinder zum Beispiel bei Beschimpfungen lachen oder zusehen, wenn ein anderes Kind malträtiert wird, ohne sich einzumischen, haben wir als Eltern versagt.

Mit freundlicher Genehmigung von
www.jewishmedia-resources.com

Wajera

Awrahams Vermächtnis

Was wir vom biblischen Patriarchen über die Heiligkeit des Lebens lernen können

von Rabbiner Avraham Radbil  07.11.2025

Talmudisches

Rabbi Meirs Befürchtung

Über die falsche Annahme, die Brachot, die vor und nach der Lesung gesprochen werden, stünden im Text der Tora

von Yizhak Ahren  07.11.2025

Festakt

Ministerin Prien: Frauen in religiösen Ämtern sind wichtiges Vorbild

In Berlin sind zwei neue Rabbinerinnen ordiniert worden

 06.11.2025

Chassidismus

Im Sturm der Datenflut

Was schon Rabbi Nachman über Künstliche Intelligenz wusste

von Rabbiner David Kraus  06.11.2025

Rezension

Orthodoxer Rebell

Sein Denken war so radikal, dass seine Werke nur zensiert erschienen: Ein neues Buch widmet sich den Thesen von Rabbiner Kook

von Rabbiner Igor Mendel  06.11.2025

Potsdam

Abraham-Geiger-Kolleg ordiniert zwei Rabbinerinnen

In Deutschlands größter Synagoge Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg werden an diesem Donnerstag zwei Rabbinerinnen ordiniert. Zu der Feier wird auch Polit-Prominenz erwartet

 05.11.2025

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Lech Lecha

Im Sinne der Gerechtigkeit

Awraham war der Erste in der Menschheitsgeschichte, der gegen das Böse aufstand

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  31.10.2025