Teschuwa

Unser archimedischer Punkt

Foto: Getty Images, Montage: Clara Wischnewski

Eine mir nahestehende Person hat vor einigen Jahren, als sich das jüdische Neujahrsfest näherte, an dem jede Jüdin und jeder Jude zur Teschuwa (Buße) aufgerufen ist, trotzig gesagt: »Mir reichtʼs, dieses Jahr sollen mal die anderen Teschuwa machen!«

Aus diesem nur halb ernst (aber doch immerhin halb ernst) gemeinten Satz spricht eine tiefe Frustration – das Gefühl, vor Gott über Jahre immer wieder Rechenschaft abgelegt zu haben über alles, was man hätte besser tun oder unterlassen können, immer wieder an sich gearbeitet zu haben, während anscheinend die Welt um einen herum regelrecht verkommt.

errungenschaft Wir schauen auf die Ereignisse um uns herum: Im Krieg gegen die Ukraine geschehen die fürchterlichsten Kriegsverbrechen, und keiner der Täter und ihrer Auftraggeber zuckt mit der Wimper. In Israel wird daran gearbeitet, politisch und gesellschaftlich all das abzuschaffen, worauf wir als jüdische Menschen stolz waren, wofür Tausende in Kriegen gestorben sind, die ganz große Errungenschaft und Hoffnung des Judentums nach seiner schlimmsten Vernichtungserfahrung.

Während die Welt anscheinend verkommt, sollen wir ein Apfelstück mit Honig essen.

Und gleichzeitig sollen wir uns reumütig auf die Brust schlagen, um unsere Sünden zu bekennen – aber zugleich auch ein Apfelstück mit Honig essen und einander frohgemut ein süßes Jahr wünschen.
Das Auseinanderstreben dessen, was Rosch Haschana moralisch an Forderungen und Erwartungen aufbietet, und dem, was wir als Weltwahrnehmung und zuweilen auch in einem feindlichen Alltagsgeschehen erleben, kann leicht zu kognitiver Dissonanz führen. Unsere Ziele und Ideale kollidieren frontal mit unseren Erfahrungen.

Damit bricht dann aber auch die Frage auf: Ist das Konzept von Rosch Haschana überhaupt eines, das dazu taugt, uns als handelnde Wesen in der Welt zu stärken, ethisch, psychologisch, sozial?Erzeugt es nicht gerade das Gefühl der von mir anfangs zitierten Person, dass die einen dauernd nach der Erfüllung der jüdischen und menschlichen Werte streben, die sie ernst nehmen, während in der Welt die den Ton angeben, die darin Schaden anrichten und sie mit Füßen treten?

Ich möchte hier das Konzept von Teschuwa unter einem etwas anderen Gesichtspunkt anschauen, nämlich unter dem Aspekt des self-empowerment (was für historisch empfindliche Ohren sehr viel angenehmer klingt als das deutsche »Selbstermächtigung«).
Teschuwa heißt ja nicht in erster Linie Buße – Letzteres ist ein Begriff, der mehr auf die äußeren Zeichen der Teschuwa angewendet wird (Bekenntnisgebete, Selbstkasteiung zum Beispiel durch Fasten an Jom Kippur) als auf ihr eigentliches Wesen und vor allem ihr Ziel.

RÜCKKEHR Teschuwa heißt Rückkehr. Ausgedrückt wird dies in etlichen Bibelversen – hier sei einer aus dem Buch Ezechiel gewählt: »Und bei der Rückkehr des Bösewichts von seiner Bosheit, die er getan hat – handelt er nach Recht und Gerechtigkeit, wird er damit seine Seele beleben« (Jecheskel 18,27).

Rückkehr wohin? Hier referiert die Bibel auf den archimedischen Punkt, den wir alle haben und von dem wir, das ist das Entscheidende, alle herkommen. Vielleicht erinnern Sie sich: Archimedes war jener griechische Denker, der vor etwa 2300 Jahren das Hebelgesetz angeblich mit dem berühmten Satz formuliert haben soll: »Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln.«

Franz Kafka hatte zu diesem Punkt (der auch als »absoluter Punkt« bezeichnet wird) ein zumindest zwiespältiges Verhältnis. In einem Aphorismus hat er über eine namenlose Figur geschrieben: »Er hat den archimedischen Punkt gefunden, hat ihn aber gegen sich ausgenützt, offenbar hat er ihn nur unter dieser Bedingung finden dürfen.«

Die Änderung in jedem Einzelnen von uns ist es, die es allein vermag, die Realität zu verändern.

Doch wenn Kafka den archimedischen Punkt als Symbol eines mechanistischen Fortschrittsverständnisses problematisierte (wie es später auch Hannah Arendt tat), so hat der archimedische Punkt als Metapher für die Dynamik unseres Seelenlebens eine durchaus befreiende Funktion. Es ist der Punkt, an den wir alle zurückkehren, von dem aus wir alles Bestehende verändern können

Das Judentum nennt diesen archimedischen Punkt »Gott«, und gemäß dem Propheten wird sein Erreichen »die Seele beleben«. Es ist dieses göttliche Element, dieser Kern der Ebenbildlichkeit in uns, der angesprochen wird. Der Begriff »Gott« verbindet dieses Innerste in jedem Menschen mit dem Kosmischen und Unendlichen, das Gott auch ist.

In der heutigen Zeit, die sich mit Gottesvorstellungen schwertut und in der wir zugleich erkennen müssen, wie häufig der Name und angebliche Wille Gottes missbraucht wird, auch im Judentum, ist es besonders wichtig zu betonen, wie zugänglich Gott gerade im Begriff der Teschuwa wird. Zurückzukehren zu Gott, dem »ewigen Du« (Martin Buber), und zu spüren, dass in uns diese Ursprünglichkeit und dieses unfassbare Potenzial stecken, jenseits niederer Interessen und negativer Emotionen, das ist ein und dasselbe.

SACHZWÄNGE Keiner und keine von uns ist dazu verdammt, Objekt oder halb autonomes Subjekt in den Sachzwängen einer hässlichen Realität zu sein, in der er oder sie »sich eingerichtet« hat. In jedem Menschen steckt dieses So-viel-mehr, und es macht den ganzen Unterschied dessen aus, was wir dichotomisch »Gut« und »Böse« zu nennen pflegen. Sich beim Bekenntnisgebet (Widui) auf die Brust zu schlagen, ist nicht in erster Linie ein Akt der verzweifelten Schuldzuweisung an sich selbst, sondern es ist der Weckruf: Hier, in meinem Herzen, sitzt etwas, das herausmöchte, sitzt der Schlüssel zur Umkehr, zu meinem archimedischen Punkt.

Schön, werden Sie sagen, dann suchen wir einmal nach diesem Punkt und klopfen unser Herz ab. Vielleicht ist das ja ein großartiger Akt des spirituellen self-empowerment. Aber was ändert sich dadurch an der Welt? Werden wir in einem Jahr nicht wieder vor demselben oder, Gott behüte, einem noch größeren Desaster stehen? Um es klar zu sagen: An der Welt ändert sich dadurch zunächst einmal gar nichts. Aber die Änderung in jedem Einzelnen von uns ist es, die es allein vermag, die Welt zu verändern.

Archimedes soll gesagt haben: »Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln.«

Denken wir an die Menschen, die ihren archimedischen Punkt gefunden hatten und aus ihm heraus lebten, wie Janusz Korczak oder die Bürgerrechtlerin Rosa Parks. Niemand sah in ihnen je Machtgestalten, die über Armeekorps oder sonstige Machtmittel herrschten. Dennoch, nein, gerade deshalb wurden sie zur Ins­piration für Generationen. Dort, wo die Welt ein besserer Ort geworden ist, hat genau diese Inspiration eine Rolle gespielt. In buchstäblich jeder und jedem von uns steckt dieses Potenzial, und es ist eine große Chance, an Rosch Haschana und Jom Kippur die Gelegenheit dazu zu erhalten, ihm auf die Spur zu kommen.

ablenkung Allein schon ein paar Stunden in der Synagoge zu sitzen ohne Ablenkung durch das neueste Reel, ohne Breaking News über die letzte Katastrophe oder einen soeben geplatzten Bundesligatransfer und ohne den Druck, einen Geschäftsabschluss erfolgreich zu Ende zu bringen, ist das Geschenk schlechthin, in uns hinein- und über uns hinauszuhorchen – denn überall dort ist Gott, und überall dorthin können auch wir gelangen – wir müssen es nur zulassen.

So begeben wir uns im Gebet – ob wir die Worte mitsprechen oder uns nur stumm sammeln – auf einen ganz bescheidenen, stillen und dennoch unnachahmlich intensiven Selbstfindungstrip. Dann gehen wir heim, angefüllt vom Besten in uns selbst. Wir tunken unser Brot und den Apfel in Honig und wissen, das kommende Jahr kann, nein, es wird ein süßes, hoffnungsvolles Jahr werden.

Der Autor ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel.

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