Mancherorts wurde in früheren Zeiten gefragt: Was ist der Unterschied zwischen den Juden im babylonischen Exil und einem Weinhändler? In Babylonien saßen sie am Wasser und weinten – der Händler sitzt beim Wein und wässert, das heißt, er streckt ihn.
In unserem Wochenabschnitt spielen sowohl Wasser als auch Wein eine wichtige Rolle. Die Wasser der Sintflut sind zentraler Bestandteil der ersten Hälfte. Der Wein, womit sich Noach im Anschluss an die Sintflut betrank, bestimmt zu einem gewichtigen Teil den weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte, sind doch an dieser Begebenheit seine Söhne entzweit und haben sich in ganz verschiedene Richtungen als Völker weiterentwickelt.
ABWERTUNG Im Zentrum beider Begebenheiten steht die Person Noach. Dieser wird von manchen unserer Weisen abgewertet. Sie beziehen sich dabei ausgerechnet auf den ihn so sehr lobenden Vers: »Dieses sind die Kinder Noachs, Noach war ein gerechter, untadliger Mann in seinen Zeiten, mit G’tt wandelte Noach« (1. Buch Mose 6,9).
Der Kommentator Raschi (1040–1105) neigt zur Meinung Rabbi Jochanans aus dem Talmud (Sanhedrin 108a), dass Noach nur zu seinen Zeiten und in seiner Generation als besonders Gerechter galt. Hätte er aber zur Zeit unseres Vorvaters Awraham gelebt, wäre er im Vergleich zu ihm in Sachen Gerechtigkeit verblasst und nicht mehr herausragend gewesen: »und hätte nichts(!) gegolten«.
Was veranlasst die Weisen, Noach derart abzuwerten, wo doch der Satz in der Tora offensichtlich dazu gedacht ist, ihn aufzuwerten?
Basierend auf dem Midrasch vergleicht Rabbi Meir Simcha von Dwinsk (1843–1926) in seinem Werk Meschech Chochma Noach mit Mosche. Auch da schneidet Noach schlecht ab: Er sei »ein gerechter Mann« gewesen, heißt es zunächst, doch verliert er diesen Status und wird nach der Sintflut nur noch »ein Mann des Bodens« genannt. Demgegenüber wird Mosche zunächst als »ägyptischer Mann« bezeichnet, erhält zum Ende der Tora aber das Prädikat »Mann G’ttes«.
Rabbi Meir Simcha begründet diese gegenläufige Entwicklung damit, dass Mosche sich für die Gemeinschaft eingesetzt hat, während Noach sich absonderte und sich nur um seine eigene Gerechtigkeit bemüht. Es kann darüber hinaus nicht außer Acht bleiben, dass Noach einer der beiden Betrunkenen ist, von denen die Tora berichtet: er und Lot. Was veranlasste Noach dazu, sich ausgerechnet in jener ungünstigen und schicksalsschweren Stunde zu betrinken?
GARTEN EDEN In Wirklichkeit geht es hier aber um einen wesentlich größeren Zusammenhang: um das Verhältnis zwischen Mensch und Erde. Der Mensch war im Garten Eden von G’tt dafür vorgesehen, eine Harmonie mit Natur und Erde aufzubauen (1. Buch Mose 2,15): »Und der Ewige, G’tt, nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, ihn zu bearbeiten und zu behüten.« Doch der Mensch verspielte dieses Potenzial durch die Sünde an der Frucht des Baumes der Erkenntnis. Dies hatte schwere Folgen: »Verflucht ist die Erde um deinetwegen, mit Schmerzen sollst du dich von ihr ernähren, alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln werden dir aus ihr erwachsen« (3, 17–18).
Das Verhältnis zwischen Mensch und Erde wurde also nicht nur getrübt, sondern mit einem Fluch belegt. Als dann Adam und Chawa zwei Söhne bekamen, war insbesondere der ältere, Kajin, Hoffnungsträger, wieder ein intaktes Verhältnis herzustellen, war doch die Landwirtschaft seine Bestimmung. Doch auch diese Hoffnung zerschlug sich. Nachdem Kajin seinen Bruder umgebracht hatte, wurde von G’tt ein weiterer Fluch ausgesprochen: »Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu Mir vom Erdboden auf! Und nun komme der Fluch über dich vom Erdboden. (…) Wenn du den Erdboden bearbeiten wirst, soll er dir seine Kraft nicht mehr geben; unstet und flüchtig sollst du auf Erden sein« (4, 10–12).
Einige Generationen waren erforderlich, um einen weiteren Menschen hervorzubringen, in dem erneut die Hoffnung aufkeimte. Schon bei seiner Geburt wurde der Aussicht auf Linderung und gar Behebung des Fluchs Ausdruck verliehen: »… und er (Lemech) bekam einen Sohn. Und er nannte ihn Noach, denn, so sprach er: Dieser wird uns trösten von unserer Arbeit und der Mühsal unserer Hände, vom Erdboden, den der Ewige verflucht hat« (5, 28–29). Noach war also der große Hoffnungsträger – von Geburt an. Er war dazu bestimmt, die Menschheit von ihrem Fluch vom Boden zu erlösen.
sintflut Die Sintflut bot auch den entsprechenden Anlass für einen wörtlichen Neubeginn. Anders als vom Meschech Chochma gedeutet, hat der Ausdruck »ein Mann des Bodens« nicht unbedingt nur eine negative Konnotation, ganz im Gegenteil: »der Herr der Erde« (Raschi), »der Große der Erde und ihr Haupt« (Rabbiner David Kimchi, Radak, 1160–1235), »der sein Herz vollkommen der Bodenarbeit widmete« (Ramban, 1194–1270).
Doch auch Noach verpasste seine einmalige Gelegenheit: »(…) und er pflanzte einen Weinberg. Und er trank von dem Wein, ward berauscht und entblößte sich in seinem Zelt.«
Seine Söhne reagierten darauf moralisch sehr unterschiedlich. Der eine wurde daraufhin mit einem Fluch belegt, der andere Sohn erhielt einen Segen. Laut dem Talmud (Sanhedrin 70a) hatte G’tt zuvor Noach auf die verheerende Wirkung von Wein hingewiesen, denn schon Adam habe seine Verfehlung aufgrund des Weines begangen.
Warum handelte Noach so? Warum nahm er die große Chance nicht wahr, führte die Menschheit nicht wieder ihrer ursprünglich zugedachten Harmonie mit Mutter Erde entgegen und wählte stattdessen den Wein?
Offensichtlich konnte Noach mit dieser riesigen Verantwortung und Erwartungshaltung nicht umgehen. Der Meschech Chochma weist darauf hin, dass sich Noach, im Gegensatz zu Mosche, nicht um die anderen, um die Gemeinschaft gekümmert hat. In seinen Wegen war er stets gerecht, abgeschottet für sich, selbst als die Welt rundherum völlig verdorben war. Doch als es darum ging, federführend Verantwortung für die Zukunft der gesamten Menschheit zu übernehmen, flüchtete er vor der Verantwortung in eine Scheinwelt, in den Rausch des Weins.
ERDBODEN Statt Noach war es einige Generationen später Awrahams Sohn Jizchak, der den Erdboden schließlich erlöste. Er brachte es fertig, in einem Dürrejahr aus hartem Land im schon fast wüstenähnlichen Süden Israels mit Beharrlichkeit und G’ttvertrauen hundertfach Ernte einzuholen (1. Buch Mose 26,12 und Raschi).
Es ist ein wunderbares Zeichen, dass die Nachkommen Jizchaks heute wieder die Wüste zurückdrängen und Israel zu einem fruchtbaren grünenden Land machen. Gemäß dem Talmud (Sanhedrin 98a) ist dies ein klares Zeichen für die Erlösung.
Und was den richtigen Umgang mit Wein betrifft: Der Wein verfügt, wie alles Erschaffene, über eine wichtige positive Funktion. So lesen wir in Tehillim: »Der Wein erfreut das Herz des Menschen« (104,15). In falschem Maße angewandt, wird seine Wirkung jedoch verheerend.
Unser Vorvater Awraham nahm vom Priester Malkizedek, dem König von Schalem, Brot und Wein entgegen (1. Buch Mose 14,18) und heiligte diese. Der Talmud (Nedarim 32b) sieht in Malkizedek Noachs Sohn Schem, der moralisch rechtschaffen auf den Trunk seines Vaters reagierte. Laut dem Ramban handelt es sich bei Schalem um Jeru-Schalem, Jerusalem, den Ort, an dem Himmel und Erde sich treffen. Ihnen folgend heiligen die Nachkommen – die S(ch)emiten und die Kinder Awrahams: das Volk Israel – jede bedeutende Zeremonie, den Schabbat und die Feiertage durch Wein, mit Kiddusch und der Hawdala.
Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.
inhalt
Der Wochenabschnitt Noach erzählt von G’ttes Beschluss, die Erde zu überfluten. Das Wasser soll alles Leben vernichten und nur Noach verschonen. Der soll eine Arche bauen, auf die er sich mit seiner Familie und einem Paar von jeder Tierart zurückziehen kann. So erwacht nach der Flut neues Leben. Der Ewige setzt einen Regenbogen in die Wolken als Symbol seines ersten Bundes mit den Menschen. Doch die beginnen, die Stadt Babel zu erbauen, und errichten einen Turm, der in den Himmel reicht.
1. Buch Mose 6,9 – 11,32