Dem Kapitel 12 im 2. Buch Mose kommt beim Auszug aus Ägypten eine wichtige Stellung zu. Dort werden zentrale Elemente des Auszugs erwähnt, die auch heute noch für unseren Sederabend und unser Verständnis von Pessach entscheidend sind.
Es sollte uns also nicht wundern, dass wir am ersten Pessachtag daraus lesen – und zwar gleich zu Beginn die Verse 21 bis 23: »Darauf rief Mosche alle Ältesten Israels und sprach zu ihnen: Zieht heraus und nehmt euch Schafe für eure Familien und schlachtet das Pessachopfer. Nehmt einen Bund Ysop und taucht ihn in das Blut, das im Becken ist, und bringt von dem Blut, das im Becken ist, an den Türsturz und an die beiden Pfosten. Ihr aber, keiner gehe aus seinem Haus, bis es Morgen wird! Wenn dann der Ewige vorüberzieht, um Ägypten zu schlagen und das Blut am Türsturz und an den beiden Pfosten sieht, dann wird Er an der Tür vorbeigehen und den Verderber nicht in eure Häuser kommen lassen, um euch tödlich zu treffen.«
Es ist die eindrückliche Beschreibung des Schutzes vor der zehnten Plage, die Ägypten heimsuchen und alle Erstgeborenen, Mensch und Tier, sterben lassen wird – ausgenommen diejenigen, die quasi den ersten Pessachseder feiern. Sie werden verschont.
Überlieferung Der Text ist fast eine Wiederholung des Kapitelanfangs, als Mosche von G’tt instruiert wird. Es gibt allerdings feine inhaltliche Unterschiede zwischen G’ttes Wort an Mosche und Mosches Ansprache an die Ältesten des Volkes. Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) erklärt es mit der mündlichen Überlieferung: »Gleich bei diesem ersten Gesetze ist uns ein konkretes Beispiel von Tora schebal Pe (mündliche Tora) gegeben. Wir sehen hier Mosche, den Ältesten des Volkes, eine die Ausführung eines Gesetzes näher präzisierende Bestimmung mitteilen, welche in den voranstehenden Aussprüchen G’ttes nicht enthalten ist.«
Doch es kommen nicht nur Details hinzu. Manche für Pessach ganz elementaren Dinge, die am Kapitelanfang erwähnt werden, wie beispielsweise der Zeitpunkt der Schlachtung oder Angaben über die Kräuter und Mazzot, fehlen hier. Es geht ausschließlich um das Blut des Lamms und seinen Zweck.
Vom Wortstamm »passach« kommt der Name unseres Festes Pessach.
Für Benno Jacob (1862–1945) ist das ganz entscheidend für das, was geschehen wird. Es nimmt die Dramatik der Fortsetzung der Plagen vorweg. Für die zehnte Plage ist in der Tat das Blut, und zwar allein das Blut, von unentbehrlicher Wichtigkeit. Denn das Blut bewirkt das Hinüberschreiten – so wie es bereits in Vers 13 heißt: »Dann wird das Blut für euch zum Zeichen dienen an den Häusern, in denen ihr euch befindet. Ich sehe das Blut und schreite über euch hin (passach), und euch wird kein vernichtender Stoß treffen, während Ich im Land Ägypten erschlage.«
Vom Wortstamm »passach« kommt der Name unseres Festes Pessach. Raschi (1040–1105) meint zu Vers 13, passach bedeute vorüberschreiten, auslassen, und er zitiert Jesaja als Beispiel. Auch zu Vers 23 kommentiert Raschi, dass es »hinwegschreiten« bedeutet.
Allerdings fällt auf, dass »uphasachti« in Vers 13 und »uphasach« in Vers 23 bei Hirsch nicht gleich übersetzt wird. In Vers 13 heißt es: »Ich ... schreite über euch hin« und in Vers 23: »es schreitet zögernd G’tt über den Eingang hin«. Warum diese Unterscheidung? Was soll das »zögernd« bedeuten? Offensichtlich weist Hirsch hier auf eine Diskussion in der rabbinischen Literatur über die Bedeutung von »passach« hin. Tatsächlich ist die Bedeutung des Wortes nämlich gar nicht so klar.
debatte Die Mechilta de Rabbi Jischmael aus dem 2. Jahrhundert berichtet in Massechta de Pischa von einer Debatte zwischen Rabbi Joschija und Rabbi Jonathan über das Wort »pasachti«.
Rabbi Joschija verknüpft es mit »pasaiti«, also »ich trat hinüber«, und erklärt, es bedeute, dass G’tt die jüdischen Häuser »übersprungen oder ausgelassen« hat.
Diese Übersetzung ist mit der Vorstellung verknüpft, G’tt wolle die Erlösung beschleunigen – eines der Motive der ungesäuerten Brote und des eiligen Essens.
Rabbi Joschija begründet diese Meinung mit einem Vers aus Schir HaSchirim, dem Hohelied: »Die Stimme meines Geliebten kommt plötzlich, um mich zu erlösen, als würde er die Hügel überspringen« (2,8). Rabbi Jonathan ist anderer Meinung und erklärt, »pasachti« bedeute, dass G’tt zu den Juden barmherzig gewesen und die Befreiung ein Akt der Gnade war. Die Mechilta de Rabbi Jischmael fasst schließlich zusammen: »Ein pischa ela chajis« – »Es gibt kein(e andere Übersetzung von) Pessach als Barmherzigkeit.«
Folgerichtig kommentierte der berühmte Rav Sa’adja Gaon, dass »passach« in Vers 23 »Erbarmen haben« und »Sewach Pessach« in Vers 27 »das Opfer der Gnade« bedeutet.
Körper Gerade diejenigen, die es problematisch finden, dass G’tt quasi körperliche Merkmale zugeschrieben werden, lehnen ein »Hinüberschreiten« G’ttes ab. In seiner aramäischen Übersetzung verwendet Onkelos (2. Jahrhundert) beispielsweise das Wort ve’ejchos, also »Ich werde Mitgefühl haben«. Er schreibt G’tt offensichtlich lieber ein Gefühl wie Gnade zu und tut sich schwer mit der Vorstellung, G’tt habe tatsächlich physisch Häuser »übersprungen«.
Eine andere Bibelübersetzung, Targum Jonathan (2. Jahrhundert), übersetzt das Wort an mehreren Stellen mit »Erbarmen haben« und an einer Stelle mit »zum Schutz«. Doch zum Schutz vor wem oder was? Vor G’tt würde sicherlich keinen Sinn machen.
Viele Übersetzer verstehen HaMaschchit nicht als »das Verderbende«, sondern als »den Verderber«.
Hirsch übersetzt Vers 23 mit »und es schreitet zögernd G’tt über den Eingang hin und lässt das Verderbende nicht in eure Häuser kommen«.
Viele Übersetzer verstehen aber HaMaschchit nicht als »das Verderbende«, sondern als »den Verderber«. Wenn G’tt aber den Verderber aufhält, dann kann nicht sein, dass G’tt die Häuser übergeht, sondern nur, dass er aus Barmherzigkeit den Engel des Todes nicht in die jüdischen Häuser lässt.
Rabbi Ovadja Sforno (1470–1550) bringt beide Positionen sehr schön zusammen: »Er (G’tt) sandte ... eine Schar Verderben bringender Engel, und ohne das Überspringen Israels, das G’tt in Seiner Barmherzigkeit tat, wären sie nicht vom Elend, der den Rest Ägyptens befallen hatte, verschont worden.«
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Darmstadt und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).