Lech Lecha

»Und du sollst ein Segen sein«

Gemeinsam feiern, gemeinsam Verantwortung übernehmen: Einer der wichtigsten Werte des Judentums ist Tikkun Olam. Foto: picture alliance/dpa

Im vergangenen Juni trat das neue deutsche Staatsangehörigkeitsrecht in Kraft. Neben weiteren Änderungen gegenüber dem alten Gesetz ist es nunmehr möglich, bereits nach fünf Jahren einen Antrag auf Einbürgerung zu stellen. Das Gesetz sieht jedoch auch Ausnahmefälle vor, in denen ein Antrag auch nach drei Jahren möglich ist, beispielsweise wenn der Antragsteller »bürgerschaftliches Engagement« zeigt oder einen besonderen Beitrag zur deutschen Gesellschaft leistet.

Awraham ist der erste berühmte Migrant. »Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters« ist die Stimme, die Awraham hört – ein uralter universeller Befehl, den Millionen von Migranten im Laufe der Geschichte gehört haben: Steh auf, pack deine Sachen und finde für dich und deine Familie ein neues Ziel!

Unmittelbar nach dem Befehl »Zieh weg aus deinem Land« sagt Gʼtt zu Awraham: »Und du selbst sollst ein Segen sein.« Dieser Satz kann als Verheißung verstanden werden – die Nationen der Welt werden durch dich und das jüdische Volk, das aus dir hervorgeht, gesegnet sein. Diese Verheißung hat sich in gewisser Weise erfüllt – der Beitrag, den das jüdische Volk in verschiedenen Bereichen geleistet hat, ist bekannt.

Awraham ist der erste berühmte Migrant

Man kann diesen Satz jedoch auch als eine Art Richtlinie oder sogar als Gebot verstehen: Awraham, du wanderst in ein neues Land ein. Du ziehst in ein Gebiet, in dem andere Menschen und Völker leben. Achte darauf, nicht nur für dich selbst zu leben. Ja, du wirst Schwierigkeiten haben, aber dennoch sorge dich nicht nur um dich selbst, sondern auch um deine neue Umgebung.

Wir wissen, dass Awraham viele Strapazen im Land Kena’an erlitten hat: Er zog von Ort zu Ort – allein in diesem Wochenabschnitt zählen wir sieben verschiedene Orte, an denen er gelebt hat. Es herrschte Hunger im Land Kena’an, seine Frau Sara wurde ihm weggenommen, und später wurden ihm die Wasserbrunnen, die seine Diener gegraben hatten, geraubt. Trotz dieser Schwierigkeiten und Herausforderungen schwebte das Gebot »und du sollst ein Segen sein« weiterhin über ihm und blieb als Forderung bestehen.

Und tatsächlich, die Gelegenheit, Segen auf seine Umgebung auszubreiten, bot sich, auch wenn sie mit unangenehmen Umständen verbunden war. Im Krieg der Könige im Tal des Toten Meeres wurde Awrahams Neffe Lot entführt. Obwohl Awraham und Lot sich zuvor nach einem Streit über Weidegründe getrennt hatten, zögerte Awraham nicht und ging, um Lot zu retten. Er nahm seine 318 Hausangehörigen und verfolgte die Könige weit in den Norden bis nach Damaskus, wo er Lot befreite.

Die Gelegenheit, Segen auf seine Umgebung auszubreiten, bot sich, auch wenn sie mit unangenehmen Umständen verbunden war

Awraham befreite nicht nur seinen Neffen, sondern auch alle Gefangenen dieses Krieges und gab ihnen ihr Eigentum zurück. Awraham hätte die Gefangenen als Sklaven nehmen oder sich zumindest die Kriegsbeute aneignen können. Doch das tat er nicht, und er erntete dafür enorme und außergewöhnliche Anerkennung von Malkizedek, dem König von Salem, und vom König von Sodom.

So hat Awraham das Gebot »Und du selbst sollst ein Segen sein« erfüllt. Der König von Sodom verdankte Awraham nicht nur sein Leben und seinen Besitz, sondern er erkannte auch, dass es einen anderen Standard von Moral und gegenseitiger Verantwortung gibt.

Tausende Jahre später erfüllten Awrahams Nachkommen in Deutschland dieses Segensgebot. Im Jahr 1743 betrat Moses Mendelssohn, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der jüdischen Aufklärung, Berlin. Er hatte die Tora ins Deutsche übersetzt und schlug damit eine Brücke zwischen den Juden und der deutschen Sprache. Er war die Vorhut einer deutsch-jüdischen Bewegung, die etwa 200 Jahre andauerte. Diese Bewegung führte den Beitrag, den Juden für ihre Umgebung leisteten, auf einen Höhepunkt. Eine Reihe von Philosophen, Schriftstellern, Bankiers und Nobelpreisträgern festigten für immer die Erfüllung von Gʼttes altem Auftrag an Awraham: »Und du sollst ein Segen sein.«

Das jüdische Gebot ist zutiefst verankert: nicht nur für sich selbst zu leben, sondern auch für die Gemeinschaft

So wie Awraham blieben auch die Juden in Deutschland, trotz der Strapazen und Herausforderungen, beständig darin, ihren Segen in ihrer Umgebung zu verbreiten. Der Antisemitismus in Deutschland hörte auch auf dem Höhepunkt ihres Erfolges nie auf, doch wie Awraham zogen sie sich nicht zurück, sondern wurden zunehmend relevant für die deutsche Gesellschaft. Es scheint, dass dieses jüdische Gebot zutiefst verankert ist: nicht nur für sich selbst zu leben, sondern auch für die Gemeinschaft.
Rund 80 Jahre nach der Zerstörung des deutschen Judentums scheint auch das neue deutsche Staatsangehörigkeitsrecht diese besondere Rolle anzuerkennen, die Juden in dem Land, in dem sie lebten, spielten. Gemäß dem neuen Gesetz muss der Staatsbürgerschaftsempfänger sich »zur besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die natio­nalsozialistische Unrechtsherrschaft und ihre Folgen, insbesondere zum Schutz jüdischen Lebens, bekennen«.

Natürlich wurde dieses Gesetz aufgrund der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Juden und des anhaltenden Antisemitismus erlassen. Aber es ist nicht abwegig anzunehmen, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft weiß, dass sie mit der Vernichtung der Juden einen ihrer größten Wachstumsmotoren verloren hat. Sie verlor jenen Segen, den Juden in ihrer Umgebung zu verbreiten verpflichtet sind.

Einer der wichtigsten Werte des Judentums ist Tikkun Olam – die Welt zu verbessern, oder wie Michael Jackson sang: »Make it a better place.« Für uns Juden ist dies keine Textzeile aus einem populären Song, sondern ein tiefes moralisches Gebot. Wenn du in einer Gesellschaft lebst, bist du verpflichtet, zu ihrem Wachstum und Wohlstand beizutragen.

Heute besteht das deutsche Judentum hauptsächlich aus Migranten. Damit setzen wir, die deutschen Juden, den Weg unseres Stammvaters Awraham fort. Auch wir haben den Ruf »Zieh weg aus deinem Land« angenommen, und genau wie er sind wir dem Gebot, das diesem Ruf folgt – »und du selbst sollst ein Segen sein« – verpflichtet.

Über uns schwebt der herrliche, aber verpflichtende Schatten des deutschen Judentums der Jahre vor der Schoa, und wir müssen diesen Weg fortsetzen. Es gibt nichts Besseres als den Mitzvah Day, der nächste Woche in den jüdischen Gemeinden in Deutschland stattfinden wird, um zu zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Der Autor ist Kantor der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg.

INHALT
Der Wochenabschnitt Lech Lecha erzählt, wie Awram und Sarai ihre Heimatstadt Charan verlassen und nach Kena’an ziehen. Awrams ägyptische Magd Hagar schenkt ihm einen Sohn, Jischmael. Der Ewige schließt mit Awram einen Bund und gibt ihm einen neuen Namen: Awraham. Als Zeichen für den Bund soll von nun an jedes männliche Neugeborene am achten Lebenstag beschnitten werden.
1. Buch Mose 12,1 – 17,27

Chaje Sara

Handeln für Generationen

Was ein Grundstückskauf und eine Eheanbahnung mit der Bindung zum Heiligen Land zu tun haben

von Rabbiner Joel Berger  22.11.2024

Talmudisches

Elefant

Was unsere Weisen über die Dickhäuter lehrten

von Rabbiner Netanel Olhoeft  22.11.2024

Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

Seit 15 Jahren werden in Deutschland wieder orthodoxe Rabbiner ausgebildet. Ein Gespräch mit dem Gründungsdirektor des Rabbinerseminars zu Berlin, Josh Spinner, und Zentralratspräsident Josef Schuster

von Mascha Malburg  21.11.2024

Europäische Rabbinerkonferenz

Rabbiner beunruhigt über Papst-Worte zu Völkermord-Untersuchung

Sie sprechen von »heimlicher Propaganda«, um Verantwortung auf die Opfer zu verlagern: Die Europäische Rabbinerkonferenz kritisiert Völkermord-Vorwürfe gegen Israel scharf. Und blickt auch auf jüngste Papst-Äußerungen

von Leticia Witte  19.11.2024

Engagement

Im Kleinen die Welt verbessern

Mitzvah Day: Wie der Tag der guten Taten positiven Einfluss auf die Welt nehmen will

von Paula Konersmann  17.11.2024

Wajera

Offene Türen

Am Beispiel Awrahams lehrt uns die Tora, gastfreundlich zu sein

von David Gavriel Ilishaev  15.11.2024

Talmudisches

Hiob und die Kundschafter

Was unsere Weisen über die Ankunft der Spione schreiben

von Vyacheslav Dobrovych  15.11.2024

Gebote

Himmlische Belohnung

Ein Leben nach Gʼttes Regeln wird honoriert – so steht es in der Tora. Aber wie soll das funktionieren?

von Daniel Neumann  14.11.2024

New York

Sotheby’s will 1500 Jahre alte Steintafel mit den Zehn Geboten versteigern

Mit welcher Summe rechnet das Auktionshaus?

 14.11.2024