Fasten ist nicht angenehm. Vielleicht ein Grund, weshalb im jüdischen Kalender Fasttage im Gegensatz zu anderen Feiertagen weniger Popularität genießen. Eine Ausnahme ist Jom Kippur, der bedeutende Versöhnungstag, der einzige Fasttag, der von der Tora vorgeschrieben ist und von weiten Kreisen eingehalten wird.
Die übrigen fünf Fasttage stehen im Ranking weitaus tiefer. Ohnehin wird lieber an den fröhlichen Festen Pessach, Chanukka und Purim gefeiert – und ausgiebig gegessen. Umso mehr sollte uns die Frage beschäftigen, wozu überhaupt gefastet werden soll und welche Bedeutung oder Relevanz dies für uns heute hat.
Mit Tischa beAw, Hebräisch für den neunten Tag des Monats Aw, der dieses Jahr auf Donnerstag, den 27. Juli, fällt und am Vorabend beginnt, steht unter den fünf Fasttagen der nach Jom Kippur bedeutendste und zweitwichtigste an – er trägt jedoch einen ganz anderen Charakter.
RELEVANZ Grund für das Fasten ist vorwiegend die Zerstörung des Zweiten Tempels, ein Ereignis, das fast 2000 Jahre zurückliegt. Dessen Relevanz liegt zunächst darin, dass mit ihm für das jüdische Volk ein Diaspora-Dasein begann, das in der Folge großes Leid mit sich brachte, wie etwa die Kreuzzüge, die Inquisition, die Chmelnyzkyj-Pogrome oder die Schoa, um nur einige der traurigen Tiefpunkte in Europa zu nennen.
Maimonides, der Rambam, fügt der Bedeutung des Tages jedoch noch eine wichtige Note hinzu: Er sieht in den Fasttagen den Aufruf, Umkehr und Buße für Sünden der Vergangenheit zu tun: »Um die Herzen zu erwecken, die Wege der Umkehr zu öffnen, so möge dies eine Erinnerung an unsere schlechten Taten und die unserer Vorfahren sein, sodass ihnen und uns diese Not verursacht wurde« (Hilchot Taaniot 5,1).
Beispielhaft hierfür wäre die Zerstörung des Zweiten Tempels, wofür der Talmud (Joma 9b) eine spirituelle Ursache erkennt: »Sinat chinam« – unbegründeter/unnötiger Hass. Darauf basierend konstatiert Rabbiner Kook, für unsere Zeit höchst aktuell und relevant: »Wenn wir und die Welt mit uns wegen unbegründetem Hass zerstört wurden, dann sollten wir zurückkehren und uns und die Welt mit uns mit unbegründeter Liebe wieder erbauen« (Orot Hakodesch 3,324).
klüfte Leider konnten wir den unbegründeten Hass, die Klüfte, die zwischen verschiedenen Gruppierungen im jüdischen Volk auftreten, noch nicht überwinden, noch ist da viel Raum zur Besinnung. Schon zur Zeit der Belagerung Jerusalems durch die Römer wandten sich die Gruppierungen gegeneinander, anstatt sich zu versöhnen und vereint Seite an Seite zu stehen, um die Notlage gemeinsam zu bewältigen.
Auch heute führen die inneren Spannungen zu hausgemachten Krisen und schwächen uns nach wie vor viel zu sehr. Denn dort, wo sich die Zusammengehörigkeit und die Einheit (auch und gerade in der Vielfalt) zeigt, dort zeigt sich auch Stärke, und selbst größere Krisen können gemeistert und weitere verhindert werden.
Bei Rambams Zugang handelt es sich um einen wunderbaren Ansatz, um den Fasttagen eine neue und relevante Bedeutung zu verleihen. Doch woher hatte Rambam diesen Ansatz?
Schon als die Römer Jerusalem belagerten, wandten sich Juden gegeneinander.
Im Talmud wird nicht erwähnt, dass die historisch bedingten Fasttage mit dem Gedanken der Besinnung und der Umkehr zusammenhängen (anders als die früher üblichen Fasttage bei ausbleibendem Regen). Jedoch finden sich mehrere Hinweise darauf, dass die den Fasttagen zugrunde liegenden historischen Ereignisse spirituelle Ursachen hatten, welche zum Unglück führten.
Die Mischna im Traktat Taanit zählt fünf Ereignisse auf, die sich am 17. Tamus zutrugen und diesen zu einem Fastentag werden ließen, und weitere fünf, die sich am 9. Aw ereigneten: »Am 17. Tamus zerbrachen die Bundestafeln, wurde der tägliche Opferdienst im Tempel unterbrochen, sind die Stadtmauern Jerusalems gefallen, hat Apostomos (ein römischer Herrscher) eine Torarolle öffentlich verbrannt, und eine Götzenstatue wurde im Heiligtum errichtet.
Am 9. Aw wurde über unsere Vorväter verhängt, dass sie nicht ins Land Israel eintreten dürfen (bei der Begebenheit mit den Kundschaftern), der Erste und der Zweite Tempel wurden zerstört, die Stadt Bejtar (die Festung im Bar-Kochba-Aufstand gegen die Römer) fiel, und die Stadt Jerusalem wurde (von den Römern) umgepflügt« (4,6).
BRAND In der Folge greift der Talmud eine interessante Frage auf (Taanit 29a): Beim Zweiten Tempel wurde am 9. Aw eigentlich nur der Brand gelegt, gegen Ende des Tages. Hauptsächlich verbrannt und damit zerstört wurde das Gebäude aber erst am 10. Aw. Dies führt Rabbi Jochanan zu der Auffassung, dass eigentlich am 10. Aw zu fasten wäre.
Der Talmud begründet, weshalb dennoch der 9. Aw als Fasttag festgelegt wurde: »Der Anfang der Bestrafung wiegt schwerer.« Damit gibt der Talmud den Hinweis, dass es bei einer Tragödie nicht ausreicht, deren Ausmaß und Wirkung zu betrachten, sondern man muss vor allem die Ursache, den »Anfang«, ins Auge fassen, um vollständige Rückschlüsse ziehen und künftig das Übel an der Wurzel packen zu können.
Schon die Mischna in den Sprüchen der Väter weist darauf hin, dass »eine Sünde die nächste nach sich zieht« (4,2), die Sünden also miteinander verkettet sind und es nicht reicht, sie als Einzelfälle zu betrachten.
Es ist kein Zufall, dass sowohl dem 17. Tamus als auch dem 9. Aw auf den Tag drei Wochen darauf in der Mischna jeweils fünf Ereignisse zugeschrieben werden und diese beiden Fasttage zusätzlich noch mit den Trauerbräuchen der »Drei Wochen« (auch »bejn Hamezarim«, Deutsch: »zwischen den Nöten«) verbunden sind.
Genauer betrachtet, haben sich nämlich vor allem am 9. Aw physisch schwere Tragödien zugetragen, wie etwa der Fall Jerusalems mit der Zerstörung der beiden Tempel oder der Bar-Kochba-Festung Bejtar, die Hunderttausenden von Juden Tod, Vertreibung und Sklaverei brachten, – oder die Sünde der Kundschafter, die für die gesamte Generation der aus Ägypten ausgezogenen Männer bedeutete, in der Wüste zu sterben.
BUNDESTAFELN Am 17. Tamus hingegen fanden eher spirituelle Tragödien statt, wie das Zerbrechen der Bundestafeln, die Unterbrechung des Opferdienstes, die Verbrennung einer Torarolle oder das Errichten einer Götzenstatue im Heiligtum.
Auch hier finden wir wiederum denselben Ansatz: Eine physische Tragödie ereignet sich nicht einfach so, »out of the blue«, völlig unerwartet. Ihr gehen Zeichen voraus, Zeichen der Zeit, Tendenzen, die zunächst harmlos daherkommen, aber allmählich vom Geiste Besitz ergreifen. Die fünf Ereignisse des 17. Tamus führten in gewisser Weise hin zu den fünf Ereignissen des 9. Aw.
Die Spaltung der Gesellschaft führte zu großem Unheil, das uns bis heute begleitet.
Wenn das Zerbrechen der Tafeln nicht zu einem grundlegenden Umdenken und Wandel der Generation führt, muss sich diese nicht wundern, wenn sie ein Jahr später am Bericht der Kundschafter zerbricht und 40 Jahre in der Wüste Raum für eine neue Generation schaffen muss. Wenn das Errichten einer Götzenstatue im Ersten Tempel durch den jüdischen König Menasche hingenommen wird, ist die Zerstörung desselben aufgrund der Sünde des Götzendienstes (Talmud Joma 9b, 69b) eine logische Folge.
opferdienst Die Unterbrechung des Opferdienstes, verursacht durch den Thronstreit zweier Brüder der Hasmonäer, brachte dem inneren Frieden im jüdischen Volk und mit Gʼtt ein jähes Ende und führte zur Zerstörung des Zweiten Tempels aufgrund unbegründeten Hasses. Die öffentliche Verbrennung einer Torarolle war ein Vorzeichen für den Fall Bejtars, was fast das Ende der jüdischen Tradition und Überlieferung durch römische Repressalien (im Talmud als »Schmad« bezeichnet) mit sich brachte.
Der Fall der Mauern war der Beginn vom Ende der prächtigen Hauptstadt Jerusalem, die schließlich als Zeichen der von den Feinden erhofften endgültigen Auslöschung umgepflügt wurde.
Was hat das nun mit uns heute zu tun? »Gutes wird an guten Tagen und Böses an bösen Tagen herbeigeführt« (Talmud Taanit 29a) – der Kalender führt uns Jahr für Jahr durch die Begebenheiten der Vergangenheit und eröffnet sie als neue Gelegenheit im Buch der Geschichte.
erkenntnis Der 17. Tamus und der 9. Aw bringen uns jährlich erneut zur Erkenntnis, dass die Ereignisse der Vergangenheit nicht als Vergangenes, sondern als gegenwärtig Relevantes und die Zukunft Bestimmendes erlebt werden sollen. Das Aufstellen von Götzenstatuen im Heiligtum und Vermischen der Religionen und Kulturen, der Bruch mit der Tora und der jüdischen Identität, das Ignorieren des Gʼttesdienstes und dessen Bedeutung für unsere tägliche Stabilität, und last but not least der innere unnötige Zwist, die Spaltung der Gesellschaft – all dies führte in der Vergangenheit zu großem Unheil, das uns bis heute begleitet.
Der Rambam zeigt mit seinem Ansatz eine neue Perspektive: Gerade an diesen Tagen haben wir die Chance, die Fehler der Vergangenheit, die uns bis in die Gegenwart begleiten, auszubessern und damit das Fundament für eine verheißungsvolle und starke Zukunft zu bauen.
Nicht umsonst wünscht man sich in vielen Kreisen heutzutage zu den Fasttagen nicht nur »Zom kal« – einen leichten Fasttag –, sondern fügt hinzu: »umoʼil« – und wirksam.
Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.