In den Synagogen verkünden wir feierlich den Anfang des Elul: Am Donnerstagabend, dem 20. August, beginnt der jüdische Monat der inneren – und auch äußeren – Vorbereitung auf die Hohen Feiertage. Ab dann wird jeden Morgen Schofar geblasen, und je nach Tradition werden Slichot, spezielle Gebete, gesagt, mit denen wir uns auf die Umkehr und Versöhnung der Hohen Feiertage vorbereiten.
In »normalen« Jahren nutze ich als Rabbinerin die letzten Tage der Sommerferien und die ersten Wochen des neuen Schuljahres, um die Pläne für Rosch Haschana und Jom Kippur des letzten Jahres aus der Schublade zu ziehen und sie für dieses Jahr zu aktualisieren.
Und ich frage mich: Sind die Leute noch in Berlin, die letztes Jahr Begrüßer an der Synagogentür waren? Wie verteilen wir die Toralesungen und die Pijutim – die poetischen Einschübe im Gebet, die bei uns Gemeindemitglieder vortragen? Und schaffen wir es dieses Jahr vielleicht endlich einmal, die Alijot und sonstige Aufgaben in den Gottesdiensten vorab zu verteilen? Und nicht zu vergessen: Wer werden die Gäste an unserem Rosch-Haschana-Tisch zu Hause sein?
UNETANE TOKEF Doch dieses Jahr ist alles anders, und das auf so vielen Ebenen. Im Gebet »Unetane Tokef« heißt es, dass an Rosch Haschana und Jom Kippur von Gott entschieden wird, »wer wird leben und wer wird sterben, wer durch das Schwert und wer durch eine Seuche« – modern ausgedrückt: wer durch Krieg und Terror und wer durch eine Pandemie?
Im Monat Elul sollen wir in uns gehen. Aber wir sind jetzt schon am Rand der Erschöpfung.
Und sehr zugespitzt und gleichzeitig ganz real: wer durch unzureichende Hygienemaßnahmen in den Synagogen zu den Hohen Feiertagen, Gott behüte, obwohl wir alle Regeln eingehalten haben? Denn trotzdem wird das Ansteckungsrisiko niemals null sein.
Wie absurd, wenn Rabbinerinnen, Rabbiner und Gemeindevorstände sich eigentlich wünschen müssen, dass möglichst viele Mitglieder selbst entscheiden, dieses Jahr zu Hause zu bleiben – damit Abstandsregeln eingehalten werden können. Inzwischen haben die Synagogen festgelegt, ob sie an Schabbat und Feiertagen Online-Angebote machen, und es hat sich zurechtgeruckelt, welche Angebote für die Mitglieder auch unter der Woche interessant sind. Und nach anfänglichem Enthusiasmus haben wir alle festgestellt, wie »oisgezoomt« wir sind, ein neues jiddisches Wort, das die Erschöpfung rund um Online-Konferenzen wunderbar beschreibt.
schuljahresanfang Während wir uns in jüdischen Schulen und Kitas zum Schuljahresanfang die Köpfe zerbrechen, wie das alles funktionieren soll – und erst in einem zweiten oder dritten Schritt überhaupt dazu kommen, nachzudenken, was das eigentlich für die Kinder bedeutet und für die besondere Atmosphäre und Wärme, die wir in unseren Bildungseinrichtungen haben wollen, sind die Synagogen damit beschäftigt, Abstände auszumessen und Gottesdienstabläufe zu kürzen.
Oder, wie ein Mitglied unserer Synagoge neulich verzweifelt meinte: »Nehmen wir uns eigentlich gegenseitig noch als Menschen wahr – oder nur noch als potenzielle Virenschleudern?«
Dass eine Freundin auf die Frage, wie es ihr geht, antwortet: »Super, alle Kitas sind noch offen«, zeigt, wie sehr wir alle am Rande der Erschöpfung stehen: Das reine Funktionieren braucht schon alle Kraft.
TO-DO-LISTE Und jetzt kommt der Monat Elul mit dem Anspruch, in uns zu gehen, nachzudenken, wen wir im zu Ende gehenden Jahr verletzt haben, geschehenes Unrecht, soweit es geht, gut zu machen. Also noch eine Aufgabe auf der unendlichen To-do-Liste, noch ein Punkt, von dem wir jetzt schon ahnen, dass wir es dieses Jahr nicht so hinkriegen, wie wir es uns wünschen.
Ein Kollege von mir sagte: Vergebung muss, besonders dieses Jahr, bei uns selbst anfangen. Wir haben es nicht geschafft – Homeoffice und Homeschooling, sicher einkaufen (und auch noch gesund und Bio), uns um die Familie zu kümmern und die Freunde nicht zu vergessen, und so vieles mehr.
Ich empfinde es als tröstend und gleichzeitig erschreckend, dass wir nicht alleine sind mit diesen Fragen: Sei es in Israel, den USA, Australien oder Argentinien, die Fragen sind überall dieselben, auch wenn die Lösungen und Antworten unterschiedlich sein mögen.
kiddusch Wie gestalten wir Gemeinschaft, wenn wir uns nur ganz beschränkt vor Ort treffen können? Was kann die lockeren Gespräche beim Kiddusch nach dem Gottesdienst – oder auch im Vorraum der Synagoge während des Gottesdienstes (ja, auch die Rabbiner und Rabbinerinnen wissen, dass das manchmal wichtiger ist als das Gebet in der Synagoge!) – ersetzen?
Wie wird das Ende von Jom Kippur aussehen – normalerweise machen wir Hawdala, der ganze vollgepackte Saal singt gemeinsam, und beim Anbeißen freut man sich über Begegnungen, redet mit Freunden, teilt das Gefühl: »Wir haben es geschafft.«
Wie wird das sein, wenn dieses Jahr das Gebet an Jom Kippur aus zweimal zwei Stunden bestehen wird? Wenn wir nach dem Ende des Feiertags kein Essen anbieten können und die Leute den Raum zügig verlassen sollen? Und dass wir planen, zusätzlich Texte für das eigene Nachdenken und Lernen zur Verfügung zu stellen, ist nur ein schwacher Ersatz für die gemeinsame Erfahrung von zehn Stunden intensiven Gebets am höchsten jüdischen Feiertag.
Gerade wurde in Berlin wieder das »gemeinsame Singen in geschlossenen Räumen« erlaubt – aber wenn man sich die Verordnung genau ansieht, zeigt sich eigentlich nur: Rosch Haschana und Jom Kippur werden dieses Jahr ganz anders aussehen als sonst. Gottesdienste müssen gekürzt werden, und gemeinsames Singen ist weiterhin nur sehr eingeschränkt möglich.
WETTER Können wir uns auf die alte Regel verlassen, dass zu jüdischen Feiertagen gutes Wetter sein wird und wir deshalb auf dem Hof der Synagoge Gottesdienste unter freiem Himmel halten können? Und was machen wir, wenn bis in einem Monat die Infektionszahlen so gestiegen sind, dass größere Versammlungen wieder verboten sind?
Und wie ist es mit dem Schofarblasen? Soll wirklich eine Atemmaske vor die Öffnung des Schofars gehalten werden, damit das Blasen sicher ist? Und werden wir es tatsächlich schaffen, Schofar-Flashmobs, über die ganze Stadt verteilt, zu organisieren?
Alle unsere Überlegungen und Planungen stehen unter Vorbehalt, für alles brauchen wir einen Plan B und C, abhängig von den dann aktuellen Infektionszahlen, vom Wetter, von behördlichen Vorschriften.
An Jom Kippur müssen wir diesmal die Gebete auf zweimal zwei Stunden kürzen.
Und natürlich frage ich als Rabbinerin vor allem nach den Menschen: Wie geht es der Familie, in deren Schule ein anderes Kind positiv getestet wurde? Und denen, die seit Monaten ihre Familien in den USA oder Israel nur auf einem Bildschirm und nicht persönlich gesehen haben?
folgen Pessach haben wir irgendwie hinbekommen, da war das alles noch neu und dramatisch – und keiner wusste, wie es sich entwickelt. Gott sei Dank sind die befürchteten katastrophalen Zustände in Deutschland nicht eingetreten. Aber was wissen wir über die längerfristigen Folgen – der Krankheit einerseits und von Stress, Angst, wirtschaftlicher Krise andererseits?
Aus der Frage des Gebets »Unetane Tokef« wird dann noch mehr: Zu der Fragestellung »Wer wird leben, und wer wird sterben?« kommt hinzu: Wie werden wir leben, wie wollen wir leben, und wie schaffen wir es, das zu ändern, was geändert werden muss, und das zu erhalten, was uns kostbar ist?
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz.