Die letzte Lebenserfahrung eines Menschen auf dieser Welt ist der Tod, das Sterben. Viele scheuen sich, dieses Thema anzugehen oder darüber zu sprechen – ein Tabuthema, dessen letzte Konsequenz schwer fassbar und im Dunkeln bleibt, bei vielen Fragen und relativ wenigen klärenden Antworten. Manche leben ein langes erfülltes Leben oder ein unerwartet kurzes, andere sterben nach einer kurzen Krankheit oder nach einem langen Leidensweg.
Der Tod eines Menschen bedeutet, dass Körper und Seele wieder getrennte Wege gehen. Sterben hat zur Folge, dass ein Mensch alle in seinem Leben erworbenen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeiten verliert und er nach seinem Ableben auf dieser Welt nichts mehr bewegen kann. Er ist also gänzlich auf fremde Hilfe angewiesen, wenn es um seine eigene Bestattung geht.
Prediger Und dennoch belehrt uns Kohelet, König Salomo (Prediger 7,1): »Besser ist ein guter Name als gutes Öl, und besser ist der Tag des Todes als der Tag seiner Geburt.« Wie sollen wir das verstehen? Die meisten von uns sind gewohnt, dass Jung und Alt Geburtstagpartys feiern. Von Festivitäten an Todes- oder Jahrzeittagen ist selten die Rede.
Rabbi Schlomo Jitzchaki (Raschi) erklärt zu dieser Stelle, dass wir mit dem Sterbetag erst langsam zu erkennen beginnen, wen und was wir eigentlich verloren haben. Mit dem Tode Mirjams war plötzlich der Wasserbrunnen in der Wüste versiegt, nach Aharons Tod gab es keine Wolkensäule zum Begleiten des Volkes mehr, und nach Mosches Tod verschwand das Manna, das werktäglich herabfallende Himmelsbrot. All dies war zur Zeit ihrer Geburten keineswegs absehbar gewesen, und so lange Mosche, Aharon und Mirjam gelebt hatten, funktionierte ja alles ganz normal.
Midrasch Im Midrasch Tanchuma (Paraschat Bereschit) erfahren wir erstmals, wie der Schöpfer Menschen beibrachte, dass Dahingeschiedene zu begraben seien. So wird von Kain berichtet, dass er, nachdem er gerade seinen Bruder (Hewel) erschlagen hatte, nicht wusste, was er jetzt mit dem leblosen Körper anstellen sollte.
Da bestellte ihm der Ewige zwei reine Vögel, die sich bekriegten. Kain sah, wie der eine Vogel den anderen angriff und dabei tötete. Dieser scharrte in der Erde, machte mit seinen Krallen ein Loch und begrub den getöteten Vogel. Daran nahm sich Kain ein Beispiel und begrub so seinen ermordeten Bruder.
Viele wissen nicht, dass es eine Mizwa ist, an einer Beerdigung teilzunehmen und beim Ausheben oder Zuschütten des Grabes, bei der Herstellung des Sarges oder bei der rituellen Reinigung (tahara) der Chewra Kadischa zu helfen. »Chessed schel emet« – wahre Wohltätigkeit nennt man das.
Wohltat Dem Verstorbenen widerfährt eine Wohltat, für die er sich nie mehr bedanken oder irgendwie erkenntlich zeigen können wird. Kein Dankeschön oder irgendeine respektvolle Anerkennung sind mehr möglich. Bei dieser Mizwa sehen unsere Weisen auch die Miterfüllung des Gebots von »we-ahawta le-reacha kamocha« – »liebe deines Nächsten Wohl wie dein eigenes« (3. Buch Mose 19,18).
Eine besondere Note und ein unermesslich großes Gewicht erhält diese Mizwa dadurch, dass der Ewige selbst Mosche beerdigt, wie es heißt: »Da starb dort Mosche, der Diener G’ttes, im Lande Moab nach G’ttes Ausspruch. ER begrub ihn im Tal, im Lande Moab, gegenüber Bet Peor, und niemand hat sein Grab erkannt bis auf diesen (heutigen) Tag« (5. Buch Mose 34, 5–6).
Beim Aufbruch zum Auszug aus Ägypten, in der größten Umbruchsperiode seiner Zeit, war Mosche unterwegs, um dem Schwur Josefs nachzukommen, seine in einem Sarg im Nil versenkten sterblichen Überreste zu suchen und sie auf den Weg nach Eretz Israel mitzunehmen. »Midda keneged Midda« – Maß gegen Maß, das heißt, in demselben Maß, wie sich Mosche für die Gebeine von Josef höchstpersönlich eingesetzt hatte – »revanchierte« der Ewige sich, indem ER ihn zur ewigen Ruhe bettete.
Kosten Von damals bis heute haben es sich das jüdische Volk, Gemeinden oder Einzelpersonen immer sehr viel kosten lassen, ihre Verstorbenen, ihre Kriegs- oder Unfallopfer, ihre Märtyrer beziehungsweise deren sterbliche Überreste zu Kewer Israel (jüdische Grabstätte) – auch unter schwierigsten Bedingungen – zu beerdigen.
Rabbi Jitzchak Silberstein zitiert in seinem Werk Torah – Lektionen für Ärzte (2011) folgenden Respons: Ein mit einer Jüdin verheirateter Mann hatte einen Sohn bekommen. Kurz danach brach der Zweite Weltkrieg aus. Seine Frau wurde in der Schoa umgebracht.
Der Mann war von einer Nichtjüdin gerettet worden, die ihn als Gatten in ihrem Ausweis eingetragen hatte. Sie lebten zusammen und hatten auch einen Sohn. Der erste Sohn hatte keinen Kontakt mehr zu seinem Vater, da es ihn in ein anderes Land verschlagen hatte. Eines Tages erhielt dieser eine gerichtliche Mitteilung, dass sein Vater verstorben sei, ein Erbe von 50 Millionen US-Dollar hinterlassen habe und ihm die Hälfte zustehe.
Asche Zwischen den Brüdern entbrannte nun ein Streit, wo der Vater zu bestatten sei. Der eine wollte ihn auf einem jüdischen Friedhof bestattet wissen, der andere auf einem nichtjüdischen Friedhof neben seiner Mutter. Der Fall kam vor ein öffentliches Gericht, das entschied, den Vater zu verbrennen und die Asche jeweils zur Hälfte den Söhnen zu übergeben.
Der ältere Sohn erschrak. Sein Anwalt riet ihm als Vergleichsangebot, dem jüngeren Bruder 26 Millionen anstatt 25 Millionen als Erbanteil zuzugestehen, und dafür den Vater ohne Kremation auf einem jüdischen Friedhof begraben zu dürfen. Als Antwort kam zurück, dass, wenn ihm die Angelegenheit so wichtig sei, er nunmehr auf den gesamten Erbteil in Höhe von 25 Millionen verzichten müsse. Daraufhin stellte er eine rabbinische Anfrage, ob es angemessen sei, um seinen jüdischen Pflichten nachzukommen, seinen Vater zu ehren und ihn jüdisch zu beerdigen, auf so viel Geld verzichten zu müssen.
Die Antwort des angefragten Rabbiners basierte auf Paragraf 253 im Schulchan Aruch-Choschen Mischpat: Die Erben stehen demnach finanziell in der Pflicht, für die Begräbniskosten aufzukommen, selbst wenn ein Sterbender von seinem Vermögen nichts für seine Beerdigung hätte verwenden wollen. Obschon es sich um eine Riesensumme gehandelt hatte, und obgleich ihn sein Bruder eigentlich sehr unschön gedrückt und erpresst hatte, wurde der größere Bruder angehalten, auf seinen Erbteil zu verzichten, um auf jeden Fall eine jüdische Beerdigung sicherzustellen.
Der Autor ist Landesrabbiner der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs.