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Familie

Um Himmels willen

Am Jahresanfang wird das Schofar geblasen. Zu Rosch Haschana gehört aber auch die Lesung von vier biblischen Texten, die alle von Familien handeln, von Eltern und Kindern, von Prüfungen und neuer Hoffnung. Foto: Flash 90

Wir stehen vor Rosch Haschana, dem Neujahrsfest, und seiner ganz besonderen Mischung aus fröhlicher Feier mit leckerem Essen einerseits und ernsthaften Gebeten der Buße und Umkehr andererseits. Viele wünschen einander in diesen Tagen »Schana towa – ein gutes Jahr«. Andere, meist Säkulare, sagen »Schana towa umetuka – ein gutes und süßes neues Jahr« und denken dabei an Apfel und Honig, weil es für sie den Inbegriff von Rosch Haschana ausmacht. Religiösere wünschen eher »leschana towa tikatewu – möget ihr für ein gutes neues Jahr eingeschrieben sein« und denken daran, dass das Fest der Beginn der zehn Bußtage ist, die an Jom Kippur enden, dem Tag des Gerichts, an dem wir alle hoffen, ins Buch des Lebens geschrieben zu sein und nicht ins Buch des Todes.

Drei verschiedene und doch verwandte Grüße, drei verschiedene und doch verwandte jüdische Perspektiven. Dreierlei Arten von Juden – und es gibt ja noch viel mehr! –, die nicht nur alle auf ihre Art Rosch Haschana feiern, sondern es nicht selten sogar gemeinsam tun. Denn sie sind sowohl Teil eines Volkes als auch häufig Teil einer Familie. Wer nur auf die Teilung in säkular und religiös schaut, wer die Religiösen dann noch nach Strömungen sortiert, übersieht, welch starke Bindung das jüdische Volk über diese Grenzen hinaus zusammenhält. Jüdische Familien versuchen, diese Grenzen zu überschreiten und ihren Zusammenhalt nicht aufzugeben.

diplomatie An welchem Ort sich die Familie zu Rosch Haschana trifft, entscheidet sich häufig danach, wer den koscheren Haushalt hat, sodass alle an einem Tisch zusammenkommen können. Und wer dazugebeten wird – die punkige Freundin des Sohnes, der Partner des Neffen und der geschiedene Vater der Enkelkinder (oder was ist mit dem neuen nichtjüdischen Freund, um es eine Beziehung zu nennen, ist es noch zu früh, der frisch geschiedenen Tochter?) –, ist hohe diplomatische Kunst und häufig Gegenstand erbitterten Streits. Wohnt man geografisch zu weit auseinander oder sind die Gräben schon zu tief, kann es sein, dass der Freundeskreis oder die Rosch-Haschana-Feier in der Gemeinde die traditionelle Familie ersetzt.

Wir sprechen heute viel vom Zerfall der traditionellen Familie, von Lebensabschnittsbeziehungen und Patchworkfamilien und bilden uns ein, dies sei etwas Neues. Neu ist nur, dass die meisten es sich heute leisten können, eine zerstörte Beziehung nicht aus rein ökonomischen Gründen aufrechtzuerhalten. Das Bild der idyllischen Einheit der Familie in sonniger Vergangenheit mit frommen Kindern und tanzenden Rebben, unbeeinflusst von der kalten Zugluft der Moderne, verfliegt für denjenigen sehr schnell, der sich ein wenig mit unserer Geschichte beschäftigt.

Ob wir uns in Fromme, Zionisten und Kommunisten (1930), Aufklärer und Traditionelle (1850), Mitnagdim und Chassidim (1790) geteilt haben, in der jüdischen Geschichte bleibt eines gleich: In jeder Generation war umstritten, wie das richtige, gute, gottgewollte Leben auszusehen hat. Die Aufgabe war es immer, diese Diskussion als »machloket leschem schamajim« zu führen, als einen »Streit um des Himmels willen« – also eine lösungsorientierte Debatte mit dem aufrichtigen Ziel, das Gute zu tun.

Auf den ersten Blick bietet uns Rosch Haschana nicht besonders viel, um diese Suche nach der Einheit inmitten der Verschiedenheit, nach dem Zusammenhalt der sowohl ideologisch wie biologisch zusammengewürfelten Patchworkfamilie zu vertiefen. Die bekannteste Mizwa von Rosch Haschana ist »lischmoa kol schofar – den Klang des Schofar zu hören«. Das Schofar steht dabei für den Aufruf zur Umkehr, aber dieser Aufruf geht an den Einzelnen.

Jeder soll sich erinnern, was er im letzten Jahr getan hat, soll das Schlechte bereuen, Schaden reparieren, so gut es geht, und auf diese Weise zu Gott umkehren. Entsprechend diesem Aufruf zur Umkehr dominiert in den Gebeten von Rosch Haschana das Bild von Gott als dem König und Richter der ganzen Welt und jedes Einzelnen.

lesungen Sehr viel weiter kommen wir mit unserer Frage aber, wenn wir uns die Lesungen anschauen, die die jüdische Tradition für die Gottesdienste von Rosch Haschana ausgewählt hat. Vier Texte sind es, die alle von Familien handeln, von Eltern und Kindern, Prüfungen und neuer Hoffnung: Am 1. Tag hören wir als Toralesung die Geburt Jitzchaks (1. Buch Moses 21) und als Haftara die Geburt Samuels (1. Samuel 1). Am 2. Tag folgt als Toralesung die Akedah, die Bindung Jitzchaks (1. Buch Moses 22) und als Haftara eine Verheißung neuen Glücks nach dem Exil (Jer. 31).

Warum all diese Geschichten von der Sehnsucht nach einem Kind und der Sorge um das Kind, als es dann geboren war, wenn das Thema von Rosch Haschana, dem Geburtstag der Welt, doch viel eher die Schöpfung gewesen wäre? Zum einen ist ja die Geburt unsere individuelle Schöpfung, das wichtigste – da gefährdetste – Ereignis zwischen Zeugung und Erwachsenenalter. Zum anderen erinnern uns diese Texte daran, dass die Schöpfung nach jüdischer Tradition nicht einfach so, sondern nach göttlichem Plan erfolgte.

Die Geburt Jitzchaks, als seine Mutter Sara eigentlich schon viel zu alt war, um noch Kinder zu bekommen, und seine Gefährdung durch Awraham, der bereit war, seinen Sohn auf Gottes Befehl hin zu opfern, sind nach der Tora das Geschehen, das der Schöpfung überhaupt erst Sinn vermittelt: Der Weg der Nachkommen Awrahams und Saras ins Land Israel, ihre Vertreibung und die stets wachgehaltene Erwartung einer endzeitlichen Rückkehr, die zugleich Frieden für die ganze Welt bedeutet, ist der erste Faden, der diese Lesungen verbindet. Zutiefst privates, individuelles Geschehen wird mit den großen Ereignissen der Welt- und Nationalgeschichte verknüpft.

Ein zweiter Faden ist die Mischung aus Freude und Leid, je nachdem, wen man genauer betrachtet und zu welchem Zeitpunkt man dies tut. Die Freude über die Geburt Jitzchaks führt zur Vertreibung von Awrahams ältestem Sohn Jischmael. Er war der Sohn Hagars, der Magd Saras. Sara bestand auf der Vertreibung von Mutter und Sohn – und Awraham schickte sie tatsächlich mit ein wenig Wasser und Essen in die Wüste.

Gott rettete sie, aber diese physische Rettung heilte die seelischen Wunden nicht, die die Verstoßung durch Vater und Familie bedeuteten. Im nächsten Schritt lesen wir, dass Awraham bereit ist, auch seinen zweiten Sohn Jitzchak zu opfern. Durch Gottes Eingreifen überlebt er, aber der Midrasch berichtet, dass dies Sara einen solchen Schock versetzte, dass sie starb.

ambivalenz Die prophetischen Lesungen sind ähnlich ambivalent. Hanna betet so inbrünstig um ein Kind, dass der örtliche Priester sie für betrunken hält. Als sie Samuel, den späteren Propheten und Wegbereiter des Königtums, zur Welt bringt, fühlt sie sich verpflichtet, ihn schon als kleines Kind dem Tempel zu übergeben – und damit auf das ersehnte Kind gleich wieder zu verzichten. Auch die Verheißung aus Jeremia 31 ist ambivalent: Einerseits vernimmt Gott das Weinen Rachels um ihre Kinder und hört auch auf Ephraim. Andererseits aber hat Gott erst durch sein Gericht dieses Leid erzeugt.

Wenn wir versuchen, aus diesen Elementen eine Hilfestellung für das Zusammensein an Rosch Haschana zu gewinnen, für das gemeinsame Gebet wie auch für das gemeinsame Essen, so wird mehreres deutlich: Jede einzelne jüdische Geschichte ist sehr konkret, sie handelt von Eltern und Geschwistern, von Kindern und Partnern. Dabei ist uns eine gelungene Beziehung genauso nah wie eine misslungene, die uns unser ganzes Leben begleitet. Wir verdrängen die Verletzungen nicht, sondern versuchen, so gut es geht, Kontakt zu pflegen.

Nichtjüdische Familienangehörige und die Frage, wie mit ihnen umgegangen wird, gehören zum Kern der Erzählungen der Tora. Jede individuelle Geschichte ist mit der Geschichte des Judentums verbunden. Vor der Schöpfung, mit der Schöpfung, bis hin zur messianischen Erlösung.

Chance Die Aufgabe, die ganze Familie an einen Tisch zu bringen, gleicht häufig der Organisation einer Konferenz der Vereinten Nationen – und ist für die Familie genauso wichtig: Hier besteht die Chance, alte Streitigkeiten beizulegen (oder wenigstens beiseitezulegen und einen wirklichen Waffenstillstand auszurufen), neu anzufangen und wieder aufeinander zuzugehen.

Seit der rabbinischen Zeit ersetzt der Familientisch den biblischen Tempel – und die verschiedenen Ansichten, religiösen Einstellungen und Lebensformen miteinander zu vereinen, ist eine Aufgabe, die den Beginn des neuen Jahres erst wirklich möglich macht. »Lischmoa Kol Schofar – die Stimme des Schofar zu hören« kann eben auch bedeuten, die Wünsche jedes Einzelnen zu hören und die Vielfalt der Lebensentwürfe zu würdigen. Jede Familie, so bunt gemischt, wie sie heute ist, verkörpert »Klal Israel – die Ganzheit des jüdischen Volkes«. Schana towa!

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