Ethik

»Um der zehn willen«

Mindestens zehn Männer müssen sich zum Gemeinschaftsgebet versammeln: Schacharit in der Berliner Synagoge Brunnenstraße Foto: Marco Limberg

Der Glaube an einen einzigen, gerechten G’tt geht auf die Erkenntnis des Erzvaters Awraham zurück. Sein unvergängliches Verdienst ist es, dass er sich als erster Mensch dafür einsetzte, dass alle Kinder dieses einzigen himmlischen Vaters die gleichen Ansprüche auf ein menschenwürdiges Leben auf dieser Erde haben müssen. Sein Name und sein guter Wille binden und verpflichten noch heute Juden, Christen und Muslime.

Erich Fromm, der deutsch-jüdische Gelehrte und Psychoanalytiker, weist in seinem Buch Ihr werdet sein wie Gott darauf hin, dass die großen Meister des Talmud von G’tt nicht im Zusammenhang mit Glaubensüberzeugungen sprachen. Eben weil in der jüdischen Tradition »an G’tt glauben« so viel heißt wie »seine Taten nachahmen«, nicht jedoch »etwas über ihn wissen«.

Lernen Ist der G’tt, von dem wir reden, wirklich der G’tt der Väter – und natürlich auch der Mütter –, ist er der G’tt Awrahams? Ich meine, ja: Wir lernen von Awraham das Handeln. »Er handelt wie ein Jude«, so lautet eine gar nicht so vorurteilsfreie Redewendung in diesem Lande. Wie aber »handelte« Awraham, der erste Jude?

Im Buch Bereschit (1. Buch Mose 18) lesen wir von den gewalttätigen, sündhaften Städten Sodom und Gomorrha, die untergehen sollten. So vernahm Awraham die g’ttliche Kunde. Er sprach zu seinem Herrn (18,23): »Wirst Du wohl den Unschuldigen mit den Schuldigen hinraffen?«

Wir würden heute fragen: Gibt es denn bei Dir kollektive Schuld? »Vielleicht sind dort noch 50 Gerechte. Willst Du nicht um der 50 Gerechten willen den Menschen in diesen Städten vergeben?« Das kannst Du Dir doch nicht erlauben, Herr, so argumentierte Awraham. Und: »Der Richter der ganzen Welt, sollte nicht gerade Er Gerechtigkeit üben?« (18,25). Und der Herr, der G’tt Awrahams, gibt klein bei.

Nur von ihm, von diesem G’tt, lohnt es sich zu reden. Auch dann, wenn kein G’tteslohn zu erwarten ist: »Wenn sich 50 Gerechte in der Stadt finden, dann soll ihnen vergeben werden.«

Wusste Awraham, ahnte er wenigstens, dass sich in den beiden Städten keine 50 Gerechten würden finden lassen? Er fing noch einmal vorsichtig an: »Vielleicht fehlen an 50 Unschuldigen fünf …« – dann wären es immerhin noch 45 gewesen.

Doch das sagt Awraham, unser Vater, nicht. Er versteht das »Handeln« anders: »Wirst Du wohl die ganze Stadt um der fünf willen (die von den 50 fehlen) vernichten?« (18,28). Das wäre nämlich ungeheuerlich und ungerecht zugleich!

Der Herr willigt ein, Er muss es tun! Das ermutigt und berechtigt zugleich Awraham zu einem weiteren Anlauf: »Vielleicht sind es aber nur 40?« Gemacht. Vielleicht auch nur 30, oder 20? Auch um ihretwegen wird dem Einwand, dem »Handeln«, stattgegeben.

Und so rückt Awraham die letzte Zahl heraus: »Mein Herr, zürne doch nicht, wenn ich das eine Mal noch rede: Vielleicht finden sich dort« – unter den Schwerverbrechern – »zehn Gerechte.«

Müssen zehn Unschuldige mit den Sündern sterben? Zehn Gerechte könnten doch noch etwas gegen eine böswillige Mehrheit bewirken. Der Herr, G’tt, lässt sich auf Awrahams »Handeln« ein. »Um der zehn willen« ist er bereit, die Stadt, mit all ihren Verbrechern, nicht zu vernichten.

So »handelte« Awraham, der erste Jude, mit seinem G’tt. Und aufgrund dieser tiefsinnigen biblischen Erzählung versuchen wir unser »tägliches Handeln« mit G’tt: morgens und abends beim Gemeinschaftsg’ttesdienst mit mindestens zehn »Gerechten«, Betenden – dem Minjan. Vielleicht lässt Er ja mit sich handeln »um der zehn willen« – wir wissen es nicht, aber wir versuchen es.

»Dialog« Eine Begebenheit zum Schluss, an der ich ungewollt beteiligt war – im Rahmen des vielbeschworenen »christlich-jüdischen Dialogs«: In einer Kirchengemeinde wurde ich gebeten, über die Inhalte unseres Judentums zu sprechen. Ich hatte den europäischen Leidensweg unseres Volkes, seine Verfolgungen, nicht ausgespart, weil dieser Leidensweg die aschkenasische Frömmigkeit und Mystik maßgeblich geprägt hat.

Nach dem Referat wurden, wie bei solchen Veranstaltungen allgemein üblich, Fragen gestellt. Da stand jemand auf und fragte mich, er verstehe etwas nicht, so begann er: Im Laufe der 2000-jährigen Kirchengeschichte seien die Christen immer mehr, die Juden aber immer weniger geworden. »Hat Sie das denn überhaupt nicht beeindruckt?«, wollte er von mir wissen.

Bevor ich antwortete, musste ich tief Luft holen. Ich weiß noch sehr genau, dass der Pfarrer an meiner Seite wie vom Schlag gerührt wirkte. Ich antwortete dem nicht gerade von einer wahren christlichen Gesinnung strotzenden »Dialogpartner«: Auch wenn ich den Weltenplan G’ttes nicht begreifen kann – ich bin fest davon überzeugt, dass unser G’tt uns genauso braucht wie diejenigen, die zahlenmäßig die Mehrheit bilden.

Ich bin ebenso fest davon überzeugt, dass der G’tt, von dem wir reden, jeden Triumphalismus der »Mehrheit« nicht braucht. Und ich glaube, dass gerade wir, die Gezeichneten, Gebeutelten, eingedenk unseres G’ttes niemals aufhören dürfen, aus unseren Zweifeln neue Kräfte für die kommenden Geschlechter zu schöpfen.

Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

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