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Um der Kinder Willen

Kann im Labor entdeckt werden: die erbliche Veranlagung zu schweren Krankheiten wie dem Tay-Sacks-Syndrom Foto: Thinkstock

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Um der Kinder Willen

Ein orthodoxer Rabbiner rät Partnern vor der Eheschließung zu einem freiwilligen Gentest

von Rabbiner Raphael Evers  24.04.2017 18:17 Uhr

Wohl wenige Väter und Mütter hat das Schicksal so hart getroffen wie Rabbiner Josef Ekstein und seine Frau: Vier ihrer Kinder starben im frühen Alter am Tay-Sacks-Syndrom. Bei aschkenasischen Juden ist die Anlage zu dieser Erbkrankheit überproportional verbreitet – innerhalb weniger Jahre nach der Geburt führt sie zu Muskelschwund, Erblindung, Taubheit, Lähmungen, Spastiken und zum Tod.

Damit anderen jüdischen Eltern diese furchtbare Erfahrung erspart bleibt, gründete Eckstein 1980 in New York die Organisation »Dor Yeshorim« – ein Institut, das streng vertrauliche genetische Tests an Heiratswilligen vornimmt. Wenn sich ein erhöhtes Risiko für die Weitergabe von Erbkrankheiten durch die Verbindung der beiden Menschen ergibt, empfiehlt das Institut, von einer Heirat Abstand zu nehmen.

Monopol
Was 1980 noch ein Tabubruch war, ist vor allem in der orthodoxen jüdischen Welt vor einem Schidduch inzwischen so gut wie Standard. Doch obwohl Dor Yeshorim längst kein Monopol mehr auf diesem Gebiet hält – viele medizinische Einrichtungen, ob jüdisch oder nicht, bieten inzwischen Gentests für heiratswillige Paare an –, lassen sich die meisten Juden vor ihrer Eheschließung nicht auf Erbkrankheiten testen.

Für viele, vor allem für Nichtreligiöse, passt die Vorstellung von Liebe nicht zu einem Gentest – sie wollen die Wahl ihres Partners nicht alleine von der Frage des Nachwuchses oder von einer »Garantie« auf gesunde Kinder abhängig machen.

Das liegt möglicherweise auch daran, dass das Tay-Sacks-Syndrom – aufgrund der inzwischen weit verbreiteten Tests – heute so gut wie nicht mehr vorkommt. Wir wissen mittlerweile, dass die Krankheit vor allem bei aschkenasischen Juden auftritt – und nur in einer Gruppe, bei der Familienmitglieder untereinander geheiratet haben.

Sefarden Doch es geht bei Weitem nicht nur um Tay-Sacks. Etwa 13 Prozent der Aschkenasim tragen Gene in sich, die potenziell zu schweren Krankheiten führen können. Und auch bei sefardischen Juden finden sich entsprechende Gene.

Ich persönlich denke deshalb: Jeder Jude und jede Jüdin, die an eine Heirat denken, sollten sich auf freiwilliger Basis genetisch testen lassen, ganz egal, ob sie aschkenasischer, sefardischer oder anderer Herkunft sind. Dieser Meinung sind übrigens auch halachische Autoritäten der sefardischen Gemeinschaft in Israel.

Die heute möglichen Gentests erfassen diverse, bei Juden überproportional häufige vererbte Nervenerkrankungen wie Morbus Canavan, das Gaucher-Syndrom, (eine Störung des Fettstoffwechsels) und Mukoviszidose. All das sind schwere und zum Teil tödlich verlaufende Krankheiten, die großes Leid verursachen.

Ich selbst habe in meinem Umfeld zweimal erlebt, dass ein Kind am Tay-Sachs-Syndrom litt und später daran starb. Wer einer solchen schrecklichen Erfahrung zuvorkommen kann, sollte diese Möglichkeit nutzen.

Ich rate jungen Menschen daher, einen Test in einem frühzeitigen Stadium ihrer Beziehung durchzuführen, sodass die Verbindung noch abgebrochen werden kann. Dann bleibt der Schmerz beschränkt – und das Ausmaß von Liebeskummer kann bei Weitem nicht verglichen werden mit dem Leid, das ein krankes Kind erfährt.

Gentest Doch natürlich gibt es substanzielle Kritik an Gentests für Paare – auch für den Fall, dass sie auf freiwilliger Basis verlaufen. Francis Collins, seit 2009 Direktor der National Institutes of Health in den USA, schrieb dazu in der New York Times, wenn in einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe Druck ausgeübt werde, sich genetisch untersuchen zu lassen, entstehe sehr schnell der Zustand, dass der Test zu einer Pflicht wird – ob der Einzelne das möchte oder nicht.

In Anbetracht der Tatsache, dass immer mehr Gene auf entsprechende Listen kommen, bestehe bei den Betroffenen die Gefahr, dass sie keinen Ehepartner mehr finden können, warnt Collins.

Doch der klinische Gen-Experte N. Loschet aus Amsterdam hält dagegen: »In Westeuropa kann sich jedes Individuum auf bestimmte genetische Abweichungen untersuchen lassen. Wir klären auch darüber auf, was es bedeutet, Träger zu sein.«

Dabei, so Loschet, werde auch die Möglichkeit einer pränatalen Diagnostik besprochen – also die Möglichkeit, am Anfang der Schwangerschaft zu untersuchen, ob der Fötus gesund ist, und andernfalls einen Abbruch zu erwägen. Heiratsempfehlungen sieht der niederländische Genetikexperte dagegen nicht als seine Aufgabe an.

Zukunft In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage: Sollte Familienplanung zwingend mit genetischer Beratung verbunden sein? Ich bin dezidiert der Meinung, dass Gentests auch in Zukunft freiwillig sein sollten. Den beiden Partnern muss die Wahl überlassen werden, welche Entscheidungen sie mit dem Ergebnis verbinden. Genetisches Screening darf keinesfalls dazu missbraucht werden, die Kosten im Gesundheitssystem zu dämpfen oder Menschen mit einer »Abweichung« zu unerwünschten Personen zu erklären.

Außerdem halte ich individuelles Screening generell für geeigneter als »Massentests«, weil junge Menschen un-
ter schweren Druck geraten könnten, sich über ihre Ergebnisse mit anderen auszutauschen.

Das System, das Dor Yeshorim in New York entwickelt hat, erscheint mir in dieser Hinsicht bis heute vorbildlich: Die Teilnehmer erhalten nach einer Blutuntersuchung eine sechsstellige Code-Zahl, unter der ihre genetische Information gespeichert wurde.

Nach dem Test bekommen der Mann und die Frau, die bei dem Institut anrufen, nach der Nennung ihrer Code-Zahlen die Angabe, ob ihre möglichen Nachkommen einem Risiko ausgesetzt sind.

Am Tag der Untersuchung muss jeder eine Einverständniserklärung der Eltern und eine eigene Einverständniserklärung sowie eine zweite Karte abgeben, auf der eine Identitätsnummer vermerkt ist. Alles, was untersucht wird, wird vorab mit dieser eigenen Identitätsnummer versehen.

Diskretion Die Röhrchen mit Blut werden ins Labor geschickt. Die Ergebnisse werden ausschließlich mit der Identitätsnummer in eine Datenbank eingespeist. Jede Mitteilung der Ergebnisse wird doppelt überprüft. Selbst die Mitarbeiter der kontrollierenden Organisation kennen die Identität der Teilnehmer und Teilnehmerinnen nicht.

Ob und welche problematischen Gene jemand im Einzelnen trägt, wird den Teilnehmerinnen und Teilnehmern nicht mitgeteilt. Denn ob Krankheitsträger oder nicht – wer seinen eigenen Status kennt, könnte bei einer Vermischung von Ergebnissen aus der Datenbank auch die potenziellen Krankheiten des beabsichtigten Ehepartners erfahren. Dies würde das Prinzip der Vertraulichkeit natürlich untergraben.

Kurz vor einem ernsthaften Ehevorhaben werden die Identitätsnummern mit den Tagen und Monaten der jeweiligen Geburten der Beteiligten in den Computer eingespeist, um zu erfahren, ob die potenziellen Partner zueinander passen.

Sind beide Träger einer Erbkrankheit, erhalten sie den Rat, einander nicht zu heiraten. Doch die Entscheidung bleibt letzlich den Ehekandidaten überlassen. Durch absolute Vertraulichkeit werden emotionale und soziale Probleme so weit wie möglich vermieden – genau wie eine gesellschaftliche Stigmatisierung ganzer Familien.

Screening Übrigens wurde bereits im Talmud über genetische Themen diskutiert. Die Entwicklung und Umsetzung medizinischer Kenntnisse ist ein biblischer Auftrag – auch in präventiver Hinsicht. Zu genetischem Screening oder zu Gentherapien hat das Judentum eine positive Haltung.

Jeder verantwortungsbewusste Mensch muss alles dafür tun, seinen Kindern so viele Entfaltungsmöglichkeiten wie möglich zu bieten – und körperliche oder psychische Probleme soweit wie möglich auszuschließen. Andernfalls halte ich Elternschaft für unverantwortlich.

Natürlich gibt es kein Gesetz, das Menschen verbieten könnte, Kinder zu bekommen. Aber das heißt nicht, dass Eltern für das körperliche und seelische Wohl ihrer Kinder nicht eine riesige Verantwortung tragen.

Recht Auch Menschen mit erblichen Krankheiten haben selbstverständlich das Recht, Eltern zu werden, aber sie müssen versuchen, für die Zukunft ihrer Kinder so gut und so frühzeitig wie möglich vorzusorgen.

Und wenn die Betroffenen rechtzeitig von ihrem Risiko erfahren und dennoch heiraten wollen, haben sie auch die Möglichkeit, sich rechtzeitig für andere Formen der Elternschaft – wie etwa für eine Adoption – zu entscheiden.

Der Autor ist Dajan beim Europäischen Beit Din und war Rabbiner der Niederlande. Er ist jetzt Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.

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