An diesem Schabbat beginnen wir die Lesung des dritten Buches der Tora, Wajikra. In Schemot, dem zweiten Buch, haben wir vom Auszug aus Ägypten gelesen, von der Gabe der Tora und dem Bau des Stiftszeltes, des tragbaren Tempels für die Wüstenwanderung. Nun geht es darum, was in diesem mobilen Heiligtum passieren soll. Wie meistens in der jüdischen Literatur setzt der Text nicht mit einer allgemeinen Überlegung oder Überschrift an, sondern ganz konkret. Gott weist Mosche an: »Sprich zum Volk Israel und sage ihnen: Wenn einer von euch dem Ewigen ein Opfer bringt, so soll er es vom Vieh, von den Rindern oder von den Schafen und Ziegen bringen« (3. Buch Moses 1,2).
Schritt für Schritt werden darauf die verschiedenen Tier- und Speiseopfer aufgelistet, die Einsetzung der ersten Priester und das erste Opfer beschrieben. Anschließend lesen wir eine Fülle von Vorschriften, von Ge- und Verboten, die den meisten heutigen Lesern fremd vorkommen und irrelevant oder gar falsch erscheinen mögen. Warum ist das Heilige Buch ein Buch voller Vorschriften?
angriff Die irritierte Reaktion auf unseren Text liegt vor allem an einer Ignoranz unserer Gesellschaft gegenüber allem Juristischen. Regeln und Gesetze klingen nach Einschränkung. Und dass religiöse Regeln unsere Wirklichkeit bestimmen sollen, wird von vielen kritisch gesehen, als eine Art Angriff auf die Autonomie des Menschen. Ein Blick in unseren Alltag zeigt aber eine ganz andere Wirklichkeit, denn wenn wir genauer hinschauen, sehen wir Regeln über Regeln, die wir nur deshalb nicht wahrnehmen, weil sie uns so selbstverständlich sind: Von der roten Ampel und der Regel »rechts vor links« im Straßenverkehr über die Art und Weise, wie man Trinkgeld gibt, über die Regeln fürs Verhalten im Supermarkt, im Bus oder in der Schule und am Arbeitsplatz.
Dass Regeln bekannt und selbstverständlich sind, ermöglicht uns ein einfacheres Navigieren im Alltag. Stellen wir uns nur einmal den Schilderwald vor, wenn die Vorfahrtsregeln an jeder Kreuzung neu festgelegt werden müssten! Oder wie kompliziert der Einkauf würde, wenn wir uns jedes Mal bewusst machen müssten, wie man sich im Supermarkt verhält: Man darf die Packung nicht aufreißen, nichts vor dem Bezahlen einfach in die Tasche stecken, am Gemüsestand selbst abwiegen und das Etikett aufkleben (oder eben auch nicht), an der Kasse alle Gegenstände aufs Band legen. Wir nehmen Regeln nur dann wahr, wenn sie uns unbekannt sind – oder wenn wir bewusst oder versehentlich dagegen verstoßen haben.
Jede Gesellschaft braucht Regeln, um den Alltag zu bewältigen und der Anarchie sowie Mord und Totschlag zu entgehen. Ohne Regeln gilt nur das Recht des Stärkeren, das kein Recht, sondern Unrecht ist. Dagegen betont die Tora, dass man Fremde, Witwen und Waisen, die Schwachen der Gesellschaft, nicht bedrängen soll.
Die Regeln für den Tempelgottesdienst, von denen wir in Wajikra lesen, sichern den Frieden zwischen den Menschen, indem sie dafür sorgen, dass Unrecht gesühnt werden muss. Schon die Rabbinen haben darauf reagiert, dass es keine Tempelopfer mehr gibt und deshalb andere Wege der Sühne nötig sind. So lesen wir im Midrasch (Awot de Rabbi Nathan 11a): »Wir haben eine andere Versöhnung, die wie jene ist. Und welche ist das? ›Gute Taten‹, wie geschrieben steht: ›Denn Gerechtigkeit forderte ich und kein Opfer‹ (Hosea 6,6).«
Eine besonders schwer zu bekämpfende Art, das Regelwerk außer Kraft zu setzen, liegt darin, es scheinbar zu erfüllen. Uns allen ist der Menschenschlag bekannt, der Regeln – gerne die Straßenverkehrsordnung – benutzt, um seine Mitmenschen zu ärgern. Auch städtische Bauordnungen sind beliebte Waffen im Nachbarschaftskrieg. So lehrt uns Rabbiner Levy Jitzchak von Berditschew (1740–1810) anhand einer Umdeutung von 3. Buch Moses 5,17, dass es möglich sei, göttliche Gebote, die dem Frieden dienen, in so fehlgeleiteter Art und Weise zu befolgen, dass es besser gewesen wäre, man hätte sie gar nicht erst zu erfüllen versucht. Levy Jitzchak benutzt hierfür den talmudischen Ausdruck »hamizwa haba’a ba’awera« aus Berachot 47b. Hiermit wird eine Gebotserfüllung bezeichnet, die auf der Übertretung eines Gebotes beruht.
Widerspruch Einen direkten, unaufgelösten Widerspruch zwischen einzelnen Regeln kann es aber im Judentum nach allgemeiner Meinung nicht geben. Ein Großteil der rabbinischen Diskussion handelt ja gerade davon, genau herauszuarbeiten, wann und in welcher Reihenfolge die Gebote im Judentum gelten. So ist es nicht überraschend, dass die Gruppen, die einer solchen Umwertung der Werte die Tür geöffnet haben, allen voran das paulinische Christentum und die Sabbatianische Bewegung des 17. Jahrhunderts, aus dem Judentum ausgeschieden sind.
In dieser Spannung zwischen notwendiger Befolgung von Regeln, ohne die Chaos herrschen würde, und der menschlichen Fähigkeit, jede Regel auch wieder zu pervertieren, finden wir keinen einfachen Weg. Wir haben aber auch keine Alternative, als es nach bestem Wissen und Gewissen zu versuchen und uns darüber im Klaren zu sein, dass wir immer wieder auch Fehler machen werden.
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.