Josef und seine Brüder – erzählt wird in dieser Geschichte der Ab- und Aufstieg der Söhne Israels als Familiendrama. Doch darüber hinaus wird hier eine nationale Geschichte verhandelt sowie die Vorstellung, dass das Handeln einzelner Menschen große politische Auswirkungen haben kann. Als zu Beginn der Parascha Josef seine Brüder sucht, weist ihm ein unbekannter Mann die Richtung. Er wird zwar nicht vorgestellt, ist aber doch unverzichtbar dafür, wie sich das Geschehen entfaltet.
Auch wir kennen unsere Rolle in der Geschichte nicht. Aber was wir machen, wem wir begegnen und wie wir uns dann verhalten, weist über uns persönlich hinaus.
Die Josefsgeschichte gehört ohne Zweifel zu den schönsten Erzählungen der Tora, aber sie beginnt voller Gewalt: Zehn Brüder fallen über den ihnen verhassten Josef her, rauben ihm seine Kleidung und werfen ihn in eine Grube. Es ist geradezu eine Umkehrung seiner Träume. Die Brüder verneigen sich nicht vor ihm, sondern schauen von oben auf ihn herab, während er da unten in der Grube gefangen ist. Später verkaufen sie ihn an eine Karawane der Ismaeliten und camouflieren das Verbrechen gegenüber ihrem Vater Jakow mit einer grausamen Lüge. Im gesamten Kapitel 37 wird Gott kein einziges Mal erwähnt – denn hier regieren Entfremdung, Hass und Gewalt, weshalb es auch keinen Platz für Gott gibt. Und in dieser Grube beginnt noch etwas sehr Wichtiges, und zwar die Sklaverei Ägyptens.
Josef stellt sich seinen Mitgefangenen vor: »Gestohlen wurde ich aus dem Land der Hebräer.«
Auch die folgenden Kapitel der Parascha erzählen von Unrecht und Gewalt. Jehuda verweigert Tamar ein Leben als Mutter und verurteilt sie zum Tode, weil er glaubt, dass sie seine Familienehre verletzt habe. Der in die Sklaverei verkaufte Josef kann sich in Ägypten zwar zum Hausverwalter hocharbeiten, ist dort jedoch fast täglich der sexuellen Belästigung durch seine Hausherrin ausgesetzt, wird von dieser Frau, die dabei mehrfach auf seine nationale Herkunft als »Hebräer« verweist, zu Unrecht der Vergewaltigung beschuldigt und kommt ins Gefängnis.
Dort, im Kerker, spielt das letzte Kapitel. Josef stellt sich seinen Mitgefangenen vor: »Gestohlen wurde ich aus dem Land der Hebräer.« Der Toraabschnitt endet schließlich mit den Worten, dass er von dem, der ihm aus dieser Situation hätte heraushelfen können, vergessen wird. Der glanzvolle Aufstieg Josefs liegt hier noch in tiefer Finsternis.
Der Midrasch Pirkej deRabbi Elieser 38 erzählt, dass die Brüder den Erlös von 20 Silberstücken aus dem Verkauf von Josef unter sich aufgeteilt hätten. Jeder der zehn Brüder habe sich daraufhin für zwei Silberstücke ein Paar Schuhe gekauft. Die Worte des Propheten Amos, die dem Schabbat Wajeschew als Haftara zugeordnet sind, werden auf Josef hingedeutet: »Sie haben den Gerechten für Silber verkauft und den Armen für ein Paar Schuhe« (Amos 2,6). Dieses Verbrechen hätten die Brüder bis zu ihrem Tode nicht gebüßt.
Die Erzählung ist wiederum Ausgangspunkt für einen weiteren Midrasch geworden, der bis heute eine prominente Stellung im Gottesdienst einnimmt. Anhand der Josefsgeschichte wurde die Erfahrung bitterer Verfolgung durch die Römer, unter anderem durch Kaiser Hadrian und nach der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes (132–135 n.d.Z.) verarbeitet.
So schildert der Midrasch Eleh Eskera (»Diese will ich erinnern«), wie der römische Kaiser Tora studiert habe, um dann jüdische Lehren zu Fragen der Schuld, Verantwortung und Strafe zu pervertieren. Er nimmt die Josefsgeschichte zum Vorwand, prominente Rabbiner töten zu lassen. In Vergeltung für die angeblich ungesühnte Untat der Brüder lässt er zehn Toragelehrte auf grausame Weise hinrichten. Es handelt sich um Rabbi Schim’on ben Gamliel, Rabbi Jischmael Hakohen Hagadol, Rabbi Akiva, Rabbi Chanina ben Teradion, Rabbi Jehuda ben Bava, Rabbi Chutzpit den Dolmetscher, Rabbi Jeschawaw den Schreiber, Rabbi Tarfon, Rabbi Chanina ben Chachinai und Rabbi Jehuda ben Tema.
Der römische Kaiser nimmt die Josefsgeschichte zum Vorwand, prominente Rabbiner töten zu lassen
In seinem Sadismus denkt er sich für jeden eine eigene, bestialische Tötungsart aus: Kopf abschlagen, die Haut bei lebendigem Leibe abziehen, in einer Torarolle eingewickelt verbrennen, mit eisernen Haken zerfleischen, Verstümmeln und andere unerdenkliche Qualen vor der eigentlichen Tötung. In Form von zwei Pijutim hat diese Erzählung von den Asseret Harugej Malchut (»Die zehn von der Staatsmacht Getöteten«) Eingang in die jüdische Liturgie gefunden: Im Mussafgebet von Jom Kippur wird der Pijut »Eleh Eskera« gelesen. Aber auch das Klagelied »Arsej Halevanon« zu Tischa beAw greift diese nachtalmudische Legende auf.
Die einzelnen Fassungen variieren etwas hinsichtlich der Abläufe und der Namen der Märtyrer. Die Lektüre dieser Texte ist nur schwer auszuhalten. In der Gestalt der zehn Rabbiner und ihrer grausamen Tötung spiegeln sich jahrhundertelange Erfahrungen des jüdischen Volkes mit Willkür, Verfolgung und Pogromen wider.
Es gibt gute Gründe, warum wir diese aus dem Mittelalter stammenden Pijutim heute noch lesen. Der liturgische Vortrag zu Jom Kippur und an Tischa beAw soll die Beter in der Synagoge daran erinnern, welche Opfer frühere Generationen gebracht haben, um das Judentum zu erhalten und weiterzugeben. Auch sollen wir zur Reflexion über das eigene Leben, unser persönliches und das der jüdischen Gemeinschaft angeregt werden.
Das Erleben von Gesetzlosigkeit ist nicht auf eine ferne Vergangenheit beschränkt
Das Erleben von Gesetzlosigkeit und die Erfahrung, einer barbarisch handelnden Macht ausgeliefert zu sein, ist ja nicht auf eine ferne Vergangenheit beschränkt. In liberalen Synagogen wurde die Lesung von »Eleh Eskera« um poetische und dokumentarische Texte ergänzt, die vom jüdischen Martyrium in späteren Zeiten – insbesondere während der Schoa – berichten. Und sehr wahrscheinlich werden bald auch Geschichten von Tod, Leid und Widerstand im Kontext der Ereignisse des 7. Oktober in unseren Gottesdiensten Platz finden.
Schreckliche Erfahrungen lassen sich aus der jüdischen Geschichte nicht ausblenden. Aber wir bleiben nicht dort stehen, sondern gehen weiter. Im Wochenabschnitt Wajeschew sahen die Rabbiner »Reschit Galutenu weReschit Ge’ulatenu«, den Beginn des Exils und der Erlösung. Die Toralesung endet zwar mit Josef als einem verkauften Sklaven im Kerker eines fremden Landes auf dem Tiefpunkt der Geschichte. Aber wir wissen bereits, dass die Woche darauf schon die Parascha von Josefs Aufstieg zur politischen Führungsgestalt der ganzen Region kündet. Und ganz zum Schluss wird Josef zu seinen Brüdern sagen: »Gott hat alles zum Guten gefügt.«
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde Hameln, betreut die Liberale Gruppe der IRGW Stuttgart und ist Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).