Das innige Verhältnis zwischen chassidischen Juden (Chassidim) und ihrem jeweiligen Meister (Rebbe) können sich Außenstehende kaum vorstellen. Während ein Rabbiner es als seine wichtigste Aufgabe ansieht, Tora zu lehren und religionsgesetzliche Fragen zu entscheiden, sieht sich ein Rebbe vornehmlich als Seelsorger und Lebensberater.
Einblicke in die Eigenart der Rebbe-Chassid-Beziehung gewährt uns Rabbiner Adin Steinsaltz in seiner zwar erklärtermaßen parteiischen, aber doch um Objektivität bemühten Biografie des siebten Lubawitscher Rebben, Menachem Mendel Schneerson (1902–1994), der er den bezeichnenden Titel Mein Rebbe gegeben hat.
Steinsaltz berichtet, dass er den Rebben um Segen und Anweisungen bat, als sein damals 15-jähriger Sohn an Leukämie erkrankte. Der Rebbe sprach einen Segen für ein langes Leben aus und fügte hinzu, man solle einer Knochenmarktransplantation nicht zustimmen. Die Ärzte waren wütend, als Steinsaltz dem Rat seines Rebben folgte und nicht ihrem. Aber entgegen der ärztlichen Prognose genas der Junge – schreibt der Autor. Erzählt er uns eine Wundergeschichte? Jedenfalls drängt sich die Frage auf, wie Laien es wagen können, der Ansicht von Fachärzten zu widersprechen. Tatsache ist, dass Chassidim ihrem Rebben eine besondere Verbindung zum Allmächtigen zuschreiben.
Seinen Helden schildert Steinsaltz als einen hochbegabten Einzelgänger, der ursprünglich überhaupt nicht Rebbe werden wollte. Zwar heiratete Menachem Mendel Schneerson eine Tochter des sechsten Lubawitscher Rebben, aber er übersiedelte mit seiner Frau von Russland nach Deutschland und später nach Frankreich, um sich zum Ingenieur ausbilden zu lassen.
Seine rabbinische Autorisation erhielt er 1928 vom Rektor des Berliner Rabbinerseminars; interessanterweise aber gar nicht, um eine Rabbinerstelle annehmen zu können, sondern lediglich, um Zugang zu einer bestimmten Bibliothek zu erhalten. Es ist eine spannende Geschichte, wie er in Amerika nach dem Tod seines Schwiegervaters dessen Nachfolger wurde.
Erlösung Unermüdlich hat der siebte Rebbe vier Jahrzehnte lang gearbeitet, um seine chassidische Bewegung zu festigen und zu vergrößern. Von der Überzeugung durchdrungen, dass der Messias, der von den Propheten angekündigte Erlöser der Welt, bald erscheinen werde, hat er unentwegt alles Mögliche getan, diesem gewissermaßen die Tür zu öffnen. Er schickte Missionare (»Schluchim« genannt) sogar in die entlegensten Regionen der Welt, um assimilierte Juden zur Umkehr zu bewegen.
Unglaublich viele Korrespondenzen hat Schneerson geführt; 30 Bände mit diesen Briefen wurden bereits veröffentlicht. Zu den Beratungsstunden des Rebben strömten Anfang der 80er-Jahre so viele Menschen, dass er diese Praxis aufgeben musste. Am eigenen Beispiel zeigt Steinsaltz, wie der Rebbe Anhänger angespornt hat. Als Steinsaltz wissen wollte, auf welche von drei arbeitsintensiven Aufgaben, die er sich aufgehalst hatte, er sich konzentrieren sollte, forderte ihn der Meister auf, alle drei Projekte fortzusetzen – und darüber hinaus noch weitere in Angriff zu nehmen.
Kritik Sowohl die Aktivitäten als auch manche Ansichten des Lubawitscher Rebben sind, wie nicht anders zu erwarten, auf heftige Kritik gestoßen. Steinsaltz erwähnt etliche Kritikpunkte und erweist sich als ein tüchtiger Anwalt seines Rebben. So versucht er zu erklären, warum Menachem Mendel Schneerson nicht ein einziges Mal das Heilige Land besucht hat.
Seit 1986 pflegte der Lubawitscher Rebbe sonntags stundenlang Dollars an Besucher zu verteilen, die an ihm vorbeidefilierten; den Sinn dieser »Dollar-Zeremonie« erläutert der Autor. Er beantwortet auch die Frage, warum der Rebbe keinen Nachfolger benannt hat. Schon zu Lebzeiten von Menachem Mendel Schneerson wurde darüber spekuliert, wer der achte Rebbe werden könnte; Steinsaltz übergeht die Tatsache, dass er selbst seinerzeit auf der Kandidatenliste stand.
Die Ereignisse nach dem Tod des Rebben behandelt Steinsaltz ebenfalls. Die wachsende Chabad-Bewegung spaltete sich in zwei Gruppen. Die eine beharrt bis zum heutigen Tag darauf, der siebte Rebbe sei der erwartete Messias gewesen; hingegen ist die andere Partei bereit, anzuerkennen, dass es Schneerson nicht vergönnt war, alle Aufgaben zu erfüllen, die der Messias zu vollbringen hat. Steinsaltz vermutet und hofft, dass beide Gruppen wieder zueinander finden werden. Wichtig ist, dass die traditionelle Messias-Lehre, die Maimonides kodifiziert hat, nicht verbogen wird – auf diese Gefahr hat der Historiker David Berger aufmerksam gemacht.
Fast gleichzeitig mit der kompakten Studie von Steinsaltz sind zwei wesentlich umfangreichere Biografien des letzten Lubawitscher Rebben erschienen, verfasst von Autoren, die in Amerika bekannt und angesehen sind. Sowohl das neue Buch von Rabbiner Chaim Miller als auch das von Rabbiner Joseph Telushkin sind von Fachleuten als materialreich, wohldurchdacht und nicht unkritisch gelobt worden.
Für »Otto Normalverbraucher« ist es nicht unbedingt erforderlich, mehrere Biografien des einflussreichen chassidischen Meisters zu studieren, denn jede für sich ist informativ und lehrreich. Für fortgeschrittene Leser ist es jedoch durchaus reizvoll, drei Darstellungen miteinander zu vergleichen. Die Beschreibungen und Analysen von Steinsaltz, Miller und Telushkin ergänzen einander; die unterschiedlichen Akzentsetzungen der genannten Autoren können zum Nachdenken und Weiterforschen anregen.
Publikation Ist es ein Zufall, dass zeitgleich mehrere wichtige Werke über Menachem Mendel Schneerson auf den Buchmarkt gebracht wurden? Nein! Wir können die Gründe für den Zeitpunkt der Publikation leicht erraten. Die Wahl des Jahres ist einer Jubiläumskultur zu verdanken, die runde Zahlen besonders schätzt: Vor genau 20 Jahren ist der (bisher) letzte Lubawitscher Rebbe gestorben.
Die Biografien sind deshalb im Frühsommer erschienen, damit man sie rechtzeitig zum Jahrzeitstag Schneersons (dem 3. Tamus) in Buchhandlungen auslegen kann. An zahlreichen Orten wird am Jahrzeitstag des großen chassidischen Meisters gedacht werden. Der Lubawitscher Rebbe hat zwar sein grandioses Messiasprojekt nicht vollenden können, aber ohne Zweifel zählt er zu den bedeutenden Gestalten des Judentums im 20. Jahrhundert. Für nicht wenige Juden war und bleibt Menachem Mendel Schneerson ein wichtiger Wegweiser.
Chaim Miller: »Turning Judaism Outward: A Biography of the Rebbe M. M. Schneerson«, Kol Menachem, New York 2014, 592 S., 34,99 $
Adin Even-Israel Steinsaltz: »My Rebbe«, Maggid Books, Jerusalem 2014, 262 S., 24,95 $
Joseph Telushkin: »Rebbe: The Life and Teachings of M. M. Schneerson, the Most Influential Rabbi in Modern History«, Harper Wave, New York 2014, 640 S., 29,99 $.
Am Dienstag, 1. Juli, 19 Uhr, stellt Joseph Telushkin sein neues Buch »Rebbe« im Jüdischen Museum Berlin, Lindenstraße 9–14, vor. Der Eintritt zu der gemeinsamen Veranstaltung mit dem Jüdischen Bildungszentrum Chabad Lubawitsch ist frei. Anmeldung unter: reservierung@jmberlin.de