Dieses Jahr verbringe ich die Sommerfrische bei meinen Eltern. Das heißt kostenlose Betreuung und Bespaßung für die Kids, Fünf-Sterne-Küche, und eine Riesenterrasse mit einem wunderschönen Panorama-Blick auf die samtig grünen Hänge des kleinen Kaffs, in dem ich aufgewachsen bin. Ruhe, Frieden, Nichtstun!
Bereits am siebten Tag sterbe ich fast vor Langeweile und beschließe, der Synagoge des Städtchens einen Besuch abzustatten. Als Kind war ich jede Woche da, zehn Jahre sind ungefähr vergangen, seit ich zum letzten Mal einen Fuß in das Gemeindehaus gesetzt habe. Man darf also gespannt sein. Meine Eltern wollen nicht mitkommen, sie murmeln irgendwas von »finanzieller Schieflage« und »total deprimierend«, also mache ich mich allein auf den Weg.
Sparzwang Tatsächlich macht de Synagoge von außen einen etwas windschiefen Eindruck. Der Pförtner ist immer noch derselbe, nur hat er sich inzwischen ein vorteilhafteres Gebiss angeschafft. Auch drinnen sieht es aus, als wäre der Sparzwang ausgebrochen. In der Damensynagoge muss ich mir den Weg zu meinem Sitz ertasten, nur eine trübe Funzel beleuchtet den Raum. Wo ist eigentlich der Kristalllüster hin, der hier früher hing? Wahrscheinlich zwangsversteigert.
Seufzend setze ich mich und lausche dem Chasan, der auf der Bima vor sich hin jodelt und tremoliert. Ab und zu wird er durch lautes Räuspern und Zischen aus der ersten Reihe (der Vorstand) zur Mäßigung aufgerufen. Alles ist genauso wie früher. Seufzend lehne ich mich zurück und genieße den ledrig-staubigen Geruch der Polster, das altbekannte Quietschen der hölzernen Sitze und die von den vielen Jahren glatt polierte Oberfläche der Stuhlreihen.
blaustich Nach dem Gebet werde ich mit dem Strom der anderen Besucher zum Synagogensaal mitgeschwemmt, niemand erkennt mich, um mich herum nur Oma-Frisuren mit Blaustich, Seniorensandalen und schlecht sitzende Toupets. Echt, echt deprimierend.
Da, endlich, ein Lichtblick – der Rabbi ist immer noch derselbe, wenigstens einer, der mich kennt. Er gibt mir im Telegrammstil ein Update über die letzten zehn Jahre. Sieht so aus, als hätten sie sämtliches Personal gefeuert und lediglich eine neue Person eingestellt.
»Er heißt Aleshbaye Avdigazeavich«, wispert der Rabbi. »Früher war er Fischer am Baikalsee, aber der ist ja ausgetrocknet. Darum hat er umgesattelt und ist jetzt Küchenchef bei uns. Eine preiswertere Kraft konnten wir nicht finden. Spricht leider kein Wort Deutsch, wir verständigen uns per Fingersprache.«
Da wird das Essen reingetragen. Eigentlich nur eine Platte, darauf ein gräulich schimmerndes Sortiment Stockfisch, außerdem Räucherfisch, Trockenfisch, Matjesspießchen und einige einsame Sardinen. »Was anderes als Fisch kann er nicht«, füstert der Rabbi entschuldigend, »aber man gewöhnt sich daran.« Er greift sich ein Röllchen Trockenfisch und lutscht vorsichtig daran.
parallelwelt Da geht ein Wispern durch die Menge: Es gibt zur Feier des Tages (Rosch Chodesch oder so) noch eine Hauptspeise. Die Fleischplatte wird vom Koch hoch erhobenen Hauptes selber reingetragen. Großzügig mit Petersilienbüscheln garniert sieht man einige aus koscherem Dosenfleisch ausgestochene Formen: Herzen, Sterne, auch ein kleiner Nikolaus und mehrere Tannenbäumchen sind dabei. Ich muss in einer Parallelwelt des Trashs gelandet sein.
Seufzend greife ich mir eine Corned-Beef-Sternschnuppe, verschwinde aus diesem deprimierenden Tableau und beginne den halbstündigen Gewaltmarsch den Berg hinauf nach Hause. Ich weiß, dort erwartet mich eine garantiert fischfreie Mahlzeit mit Joich, Lokschen, Kigl und dem ganzen Sortiment an hoch cholesterinhaltigem und praktisch vitaminfreiem Jewish Food. Ich weiß, ich weiß, Fisch ist ja so gesund. Aber manchmal braucht der Mensch statt erstklassigen Omega-3-Fettsäuren halt erstklassiges Jewish Soul Food – fragen Sie mal Ihre Mutter.