Der Wochenabschnitt Re’eh wiederholt G’ttes Koscherliste von Säugetieren, Fischen und Vögeln, die Juden essen dürfen. In der Kategorie Vögel zählt die Tora 24 Vogelarten auf, die nicht koscher sind. Eine davon hat drei Namen, unter anderem »Re’eh«.
Was für ein Vogel ist dieser Re’eh? Im Talmud steht, dass er außergewöhnlich gut sehen kann: Er sei in der Lage, von Babylon aus einen Kadaver im Land Israel zu erkennen. Das ist beeindruckend, denn die Entfernung beträgt rund 800 Kilometer!
Der Grund dafür, dass einige Tiere nicht koscher sind, liegt darin, dass ihre negativen Eigenschaften einen schlechten Einfluss auf den Menschen haben können – nach dem Motto: »Du bist, was du isst«.
Doch warum ist der Vogel Re’eh nicht koscher? Gut sehen zu können, ist doch eine geschätzte Eigenschaft. Sollte dieser Vogel dann nicht koscher sein?
Raubvogel Der Talmud beschreibt nicht nur die gute Sehkraft des Raubvogels, er erklärt uns auch, warum er nicht koscher ist: »Dieser Vogel steht in Babylon und sieht einen Kadaver im Lande Israel.« Wenn man auf das Land Israel schaut, kann man vieles sehen, einschließlich vieler positiver und liebenswürdiger Dinge.
Doch was sieht dieser Vogel? Kadaver! Er ist nun mal ein Raubvogel, der tötet, verschlingt und das Fleisch anderer Tiere frisst. Seine Augen schauen auf Eretz Jisrael, aber sehen dort nur eines: die Kadaver des Landes. Dies ist es, was ihn zu einem unkoscheren Tier macht. Wir möchten dieses Verhalten nicht in unsere Seele aufnehmen.
Manche Menschen müssen sich ständig beschweren. Sie betrachten ihre wunderschöne Frau, Kinder, Verwandte, Gemeindemitglieder, und sie sehen nur die Fehler und die negativen Eigenschaften.
Manche Menschen hören nie auf, alles zu kritisieren. Während andere in allen nur das Gute sehen, haben diese Menschen immer das Schlechte im Blick. Sie können anderen immer zeigen, dass jeder Mensch Hintergedanken hat. »Nichts und niemand auf unserer Welt ist rein! Alles birgt einen inneren, stinkenden Kadaver!«
Haben sie recht? Sie mögen teilweise oder sogar völlig recht haben. Jeder Mensch hat Fehler. Selbst der größte Heilige hat irgendwo eine Leiche im Keller. Deswegen brauchen wir die Tora, damit sie uns den Weg weist. Aber der Umstand, dass diese Menschen nur das Schlechte an anderen sehen, bedeutet, dass sie etwas Unkoscheres an sich haben.
Kritik Gibt es in Eretz Jisrael »Leichen«? Geschehen dort schreckliche Dinge? Sicherlich. Hat Ihre Frau Fehler? Hat Ihr Mann Fehler? Sicher! Alle Männer und Frauen haben Fehler. Hat die Gemeinde Defizite? Bestimmt! Sind Ihre Kinder perfekt? Glauben Sie mir, ganz bestimmt nicht. Aber ich frage Sie: Warum sehen Sie immer nur das?
Wir alle merken, dass wir in einer Depression stecken, wenn die schönen Dinge bedeutungslos werden. Selbst die schönsten Geschenke sind scheußlich, wenn wir uns in einem betäubten und toten Zustand befinden.
Nun, hat der Kritiker unrecht? Nein! Jede Gemeinschaft hat ihre Fehler, und wir müssen sie korrigieren. Echte und reife Menschen wissen konstruktive Kritik zu schätzen. Kritik lässt uns mehr wachsen als Komplimente. Aber wenn man nur noch das Negative sieht, wenn man immer nur auf das Negative hinweist, dann bedarf man selbst einer Reparatur.
Dies gilt insbesondere für Beziehungen. Sie möchten Ihren Mann, Ihre Frau oder Ihre Kinder kritisieren? Tun Sie es! Aber wenn Sie nur das tun – immer nur deren Fehler kritisieren –, werden sie Ihnen nicht zuhören. Sie werden Sie völlig ausschließen. Für immer. Sie müssen erst das Gute sehen und betonen, das Positive und Edle. Sagen Sie Ihrem Ehepartner, Ihrer Ehepartnerin oder Ihren Kindern, was Sie gut an ihnen finden und wie sehr Sie sie schätzen. Verbinden Sie die Kritik mit dem vielen Guten, was vorhanden ist, dann werden sie Ihnen zuhören, die Kritik wahrnehmen und daran wachsen.
Wenn Sie rein und heilig sind, sehen Sie Unschuld und Reinheit bei anderen. Wenn Sie mit Ihrer eigenen Seele in Verbindung stehen, dann spüren Sie die Seele bei anderen. Wenn Sie eine echte Beziehung zu G’tt haben und Ihre Anerkennung der G’ttlichkeit bei anderen Menschen fühlbar ist, wenn Sie nicht an einem aufgeblasenen Ego oder einer fürchterlichen Unsicherheit leiden, dann werden Sie wirklich das Gute in anderen Menschen wahrnehmen können.
Fast alle Menschen haben Leichen, Skelette, Dämonen und Geister im Keller – das macht sie menschlich und nicht g’ttlich. Selbst das Heilige Land hat seinen Anteil an Kadavern – physisch wie psychisch. Aber wenn man nur das sieht, bedeutet es, dass man ein nichtkoscherer Mensch ist und der Reinigung bedarf.
Kadaver Nun verstehen wir den tieferen Sinn der Worte im Talmud: Wir haben gelernt, dass dieser Vogel in Babylon steht und einen Kadaver im Land Israel sieht. Hier handelt es sich nicht nur um ein mögliches Szenario. Es ist eine Erklärung: Denn der Grund, warum er die Kadaver im Heiligen Land sieht, ist, dass er selbst in Babylon steht.
Wie der Baal Schem Tow einmal bemerkt hat, ist das Leben wie ein Spiegel. Wenn man schmutzig ist, wird man überall und bei jedem Menschen Schmutz sehen. Wenn man rein ist, dann wird man überall und bei jedem Reinheit sehen. Ist Ihnen schon aufgefallen, dass Sie, wenn Sie mit dem Finger auf jemanden zeigen, gleichzeitig mit drei Fingern auf sich selbst zeigen?
Sie können mehr über einen Menschen erfahren aus dem, was er oder sie über andere sagt, als aus dem, was andere über ihn oder sie sagen.
Israel Was unsere Weisen über den nichtkoscheren Vogel Re’eh sagten, ist im Hinblick auf Israel heute sehr relevant. Ist es ein perfektes Land? Wir alle kennen die Antwort. Israel steht vor vielen Herausforderungen und Problemen. Ist die Regierung perfekt? Nur ein Idiot würde dies behaupten. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat die israelische Führung einige historische Fehler begangen, deren Behebung wahrscheinlich Generationen dauern wird.
Aber es gibt Menschen, die, wenn sie nach Israel schauen, nur die »Leichen« sehen. In unserer Zeit, mit der modernen Technologie, wurden wir alle mit der Sehkraft des Raubvogels gesegnet. Wir sitzen zu Hause in Babylon (oder in Deutschland, oder sonstwo auf der Welt), und mithilfe der Nachrichtenkameras können wir Israel sehen. Aber oftmals sehen all die Reporter, Journalisten, Blogger, Akademiker, Politiker nur die stinkenden Leichen in Israel. Wenn sie über Israel berichten, bekommt man den Eindruck, dass das Land nichts als palästinensische Kinderleichen produziert.
Und so weiß man, wie unglaublich voreingenommen und unfair sie sind. Wenn jemand Israel kritisiert, ist das absolut legitim. Man kann über vieles argumentieren und streiten. Aber wenn man Israel ausschließlich kritisiert und nichts Gutes über das Land sagen kann, wenn Israel als das rassistischste Land dargestellt wird, dann weiß man, dass dies nichts mit Israel zu tun hat. Es bedeutet, dass der Mensch, der diesen Hass ausspeit, treif ist, er oder sie ist nicht koscher. Darauf müssen wir klar und deutlich hinweisen!
Letzten Endes geht es nur um die Perspektive. Jeder von uns muss sich entscheiden, was er sehen will – in sich selbst und in der Welt um ihn herum.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
inhalt
Der Wochenabschnitt Re’eh beginnt mit den Worten, die Mosche an das Volk richtet: »Siehe, Ich lege heute vor euch Segen und Fluch!« Den Segen erhalten die Bnei Israel, wenn sie auf die Gebote G’ttes hören. Der Fluch wird über sie kommen, wenn sie sich nicht entsprechend verhalten und sich fremden Götzen zuwenden. Bei den nachfolgenden Ritualgesetzen geht es um die Errichtung eines zentralen Heiligtums, um Schlachtopfer, die Entrichtung des Zehnten (Ma’aser) und um die Erfüllung von Gelübden (Neder). Dann folgen die Speisegesetze, und zum Schluss werden die Regeln für das Schabbatjahr beschrieben und die Feiertage Pessach, Schawuot und Sukkot sowie die damit verbundenen Vorschriften erwähnt.
5. Buch Mose 11,26 – 16,17