Während des vergangenen Jahres war ich zu Besuch beim Landesrabbiner eines kleineren Bundeslandes. Er erzählte mir wehmütig, dass in den Gemeinden, die er betreut, in den vier Jahren seit seinem Amtsantritt nur zwei jüdische Hochzeiten stattgefunden hätten – eine davon sei seine eigene gewesen.
Das war zunächst als Hinweis auf die starke Überalterung der Gemeinschaft gedacht. Aber es ist natürlich auch ein Indikator für eine starke Zurückhaltung jüdischer Menschen in Deutschland, (untereinander) zu heiraten. Was dann natürlich wieder die Überalterung fördert, siehe oben.
vermutungen Es ist ein heikles Thema, darüber zu schreiben. Wer für die Heirat junger jüdischer Menschen eintritt, macht sich sogleich einer ganzen Reihe von kritischen Vermutungen verdächtig: Hat er sich zum Ziel gesetzt, jungen Menschen in ihre Privatsphäre zu pfuschen, bloß um den Gemeinden Zuwachs zu verschaffen? Lehnt er interkonfessionelle Ehepaare ab? Oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften? Alleinerziehende Eltern?
Wie Yuval Noah Harari kürzlich in einer Rede sagte, sind die Juden über Jahrhunderte das Musterbeispiel des Pluralismus gewesen, in dem sie das Eigene hochhielten, ohne an anderen Lebens- und Glaubensformen zu rütteln. Was in diesem Fall heißt: Es ist möglich, über dieses Thema zu schreiben, ohne irgendeine andere Lebensform geringzuschätzen.
Jenseits der abgestandenen Witze über nervende jüdische Mütter, die ihre Söhne und Töchter zur Ehe drängen, gibt es die echte Not jüdischer Singles im realen Leben. Und sie hat nicht immer einfach nur den »Mangel an attraktivem Angebot« zur Ursache, wie es vielleicht jene in europäischen kleinen und mittleren Gemeinden empfinden mögen, die jedes jüdische, halbwegs heiratsfähige Wesen jedweden Geschlechts im Umkreis von 500 Kilometern kennen.
schidduchim Diese Not gibt es auch, und vielleicht fast noch mehr, in nationalreligiösen Kreisen in Israel, wo viele Jugendliche in getrennten Schulen und fast ohne Kontakt zum anderen Geschlecht aufwachsen, traditionelle Schidduchim unter Einbeziehung der Eltern nicht angesagt sind und man zugleich mit 25 Jahren (vor allem als Frau) als bereits angejahrt und potenziell problematisch gilt.
Indem ich mich zur Hälfte von etwas mache, verdopple ich mich.
Ich will die Angst, sich an eine ganz falsche Person zu binden, nicht kleinreden. Aber zuweilen scheint mir das weniger die Angst vor wirklichen charakterlichen Defekten des anderen zu sein als vor dem, was die Ehe abverlangen würde, am Entzug von Freiheiten, manchmal auch finanziellen Mitteln, an Entscheidungsperspektiven. Welchen Preis soll ich zu zahlen bereit sein? Wenn ich vor jeder Urlaubsbuchung eine Kosten-Nutzen-Rechnung anstelle, ist dies dann bei dieser schwerwiegenden Angelegenheit nicht doppelt wichtig?
Interessanterweise nennt der Talmud, der die Ehe vorwiegend aus der Perspektive des Mannes betrachtet und ihn geradezu zur Ehe zu verpflichten sucht, praktisch keine positiven Gründe fürs Heiraten (außer der sehr allgemeinen Formel, es sei besser, verheiratet als allein zu leben). Hingegen nennt er ein ganzes Pflichtenheft, das mit der Ehe verbunden ist. Der Mann hat der Frau ausreichend Mittel bereitzustellen, er hat ihr Respekt zu erweisen, und er hat die Pflicht, sie sexuell zu befriedigen. Nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung sieht das nicht aus. »Und wo bleibe ich?«, wäre die erste Frage, die ein vernünftiger Mensch in diesem Falle stellen dürfte.
geheimnis Das Geheimnis dieses rabbinischen Zugangs scheint zu sein, dass er die wahre Frage der Ehe in den Mittelpunkt stellt: Wie viel bin ich bereit, für diese andere, auserwählte Person zu tun, zu geben? Bin ich bereit, mein ganzes restliches Leben auf sie auszurichten, ihr meine Zeit zu widmen, mein Geld, meine ganze sexuelle Energie? Will ich ihr aber auch meinen Schabbat widmen, mit ihr zusammen die Mazze brechen, den Jom Kippur durchfasten, selbst wenn wir beide am Koffein-entzug draufzugehen drohen? Indem ich mich zur Hälfte von etwas mache, verdopple ich mich. Alles, was ich tue, ist für zwei gedacht, macht doppelt Sinn.
Dann wird auch die Nacht, die man womöglich einmal am Bett des anderen im abgedimmten Licht eines Krankenhauszimmers durchwacht, zur Nacht der Liebe – weniger attraktiv, zugegebenermaßen, als eine Liebesnacht, aber unersetzbar für das Erkennen dessen, wie untrennbar man zusammengehört, wie sehr das Wohlergehen des anderen im Zentrum des eigenen steht. Wen in diesem Augenblick die Frage streift: »Würde er/sie das für mich auch tun?«, hätte, aus mehreren Gründen, wohl eher nie heiraten sollen.
Aber läuft, ehrlich gesagt, bei diesem Werben für jüdische Ehen am Ende nicht doch alles aufs Kinderkriegen hinaus? Na ja, und wenn schon: noch mehr Sorgen, noch weniger Freiheit, noch knapper rechnen, nicht zu unterschätzen auch das Aufteilen der Verantwortlichkeiten. Kurz: Stress ohne Ende. So viel Liebe ist in einem drin, die man sich nie zugetraut hat – und so viel Liebe mehr noch weiterzugeben.
Einen Versuch ist es wert. Vielleicht sogar einmal in einer Gemeinde des bedauernswerten Landesrabbiners.
Der Autor ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel, Krimiautor und seit 34 Jahren verheiratet.