Die Lage im Westen Deutschlands ist dramatisch. Wassermassen zerstören Häuser, Existenzen und Menschenleben. Als hätten wir mit dem Coronavirus nicht ohnehin genügend Probleme. Aus religiöser Sicht drängt sich einem unweigerlich der Vergleich zum Trauertag Tischa beAw, den wir am vergangenen Sonntag begingen, sowie zur biblischen Geschichte der Sintflut auf.
Die Augenzeugenberichte von Menschen aus von der Flut zerstörten Städten und Dörfern ähneln emotional – und teilweise auch inhaltlich – den Eindrücken von Jirmijahu, als er das zerstörte Jerusalem sieht: eine Mischung aus Wehmut, Schmerz und Zorn. Eicha, seine Klagelieder, beginnen mit: »Ach, wie liegt sie so einsam, die sonst so volkreiche Stadt.« Das passt zu den leeren Städten nach der Flut ebenso wie zur Situation in den Städten während des Corona-Lockdowns. Wir befinden uns in der Tat auch jetzt in einer Zeit »inmitten der Bedrängnis«, wie es der Prophet Jirmijahu formuliert. Eine Zeit, die mit Kummer und Leid verbunden ist.
tragödien Im Judentum erinnern wir uns an die Tragödien der Vergangenheit gerade deshalb, um Tragödien unserer Zeit besser verstehen und einordnen zu können. Erinnerung ist im Judentum also nie abstrakt, sondern immer konkret. Tragödien sind ein Weckruf, und wir können aus der Vergangenheit lernen.
An Tischa beAw gedenken wir vor allem der Zerstörung der beiden Tempel in Jerusalem, auch wenn noch viele andere Unglücke an diesem Datum geschehen sind. Unsere Weisen sagen, dass der Erste Tempel wegen Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen zerstört wurde, der Zweite Tempel aus grundlosem Hass. Es geht hier also vor allem um menschliches Versagen, um mangelnde Mitmenschlichkeit.
Ganz ähnlich ist es auch bei der Flutgeschichte. Die Menschen in der Generation von Noach füllten die Erde mit Unrecht – wie im 1. Buch Mose zu lesen ist. Es geht hier um ein Unrecht, das subtil daherkommt, wie Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) in seinem Kommentar erklärt. Sie waren korrupt, sie dachten nur an sich und ihren Vorteil, sie kümmerten sich nicht um die anderen Menschen, es herrschten Missgunst und Neid. Es gab kein Bewusstsein für Solidarität, kein Verantwortungsgefühl.
schöpfung Die Flutgeschichte hat noch eine weitere Dimension. G’tt schuf die Welt in vollkommener Harmonie. Er zeigte uns am Beginn der Schöpfung die Schönheit der Welt und mahnte uns, sie zu schützen, wie der Midrasch (Kohelet Rabba 7,13) erklärt: »Zu der Zeit, als G’tt Adam erschuf, führte er ihn an jedem Baum in Gan Eden vorbei und sagte zu ihm: ›Siehe, wie schön und rühmenswert meine Schöpfungen sind. Alles, was ich geschaffen habe, habe ich für dich geschaffen. Pass auf, dass du meine Welt nicht beschädigst oder zerstörst, denn wenn du sie beschädigst, wird es niemanden geben, der sie nach dir repariert.‹« Doch auch hier versagen wir als Menschheit.
Wir müssen Gesellschaften aufbauen, die sozial und ökologisch nachhaltig sind.
Weder die Sintflut noch die Zerstörung des Tempels sind also als Strafe G’ttes zu verstehen. Diese Tragödien sind – wie die Flutkatastrophe jetzt auch – vor allem von Menschen gemacht. Sie mahnen uns, endlich unserer Verantwortung gerecht zu werden und entsprechend zu handeln. Was sind unsere Prioritäten? Wofür möchten wir als Gesellschaft unseren Wohlstand nutzen? Wie schaffen wir ein nachhaltiges Leben im Einklang mit der Natur?
umkehr G’tt wünscht sich unsere Umkehr und unterstützt unser Bemühen. Er steht uns auch angesichts von Tragödien tröstend zur Seite. So wie die biblischen Propheten Unglück und Strafe für Israel voraussagen, spenden sie Trost und Hoffnung. Dieselben Propheten, die in klarer, fast überdeutlicher Sprache den Untergang beschreiben, sprechen von einer positiven Zukunft: »Denn hat G’tt einst erst Zion getröstet, so hat Er auch all ihre Trümmer getröstet, Er machte ihre Wüste zum Paradies und ihre Wildnis zu einem G’ttesgarten, Wonne und Freude wird in ihr gefunden, huldigender Dank und Stimme des Sanges« (Jeschajahu 51,3). Die Propheten geben der Welt Hoffnung! Was zerstört ist, kann wiederaufgebaut werden, Trauer kann zur Freude werden, und wir können das bewirken.
Es liegt also vor allem an uns! Wie Rabbiner Jonathan Sacks sel. A. einmal sagte, muss ich handeln, als ob alles von mir persönlich abhinge, und so beten, als ob alles nur von G’tt abhinge. Wir und unsere Taten – im Einklang mit G’ttes Wort – machen also letztlich den Unterschied.
Wir sollten keine Sorge und Angst vor den Herausforderungen unseres Lebens haben, hier dürfen wir auf G’ttes Beistand vertrauen. Wir sollen Sorge um uns und unser Handeln haben, dass wir die falschen Entscheidungen treffen, dass wir scheitern. Ja, es gibt Unsicherheiten. Die Gesellschaft muss sich damit auseinandersetzen, aber gemeinsam und solidarisch können wir solche Krisen meistern.
Wir müssen Gesellschaften aufbauen, die sozial und ökologisch nachhaltig sind, in denen Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. Wir müssen gleichzeitig unsere Umwelt schützen und dafür sorgen, dass auch die kommenden Generationen in einer Welt leben, die noch lebenswert ist. Dafür gilt es jetzt die Weichen zu stellen.
Der Autor ist Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) und derzeit als Notfallseelsorger in Rheinland-Pfalz im Einsatz.