Jom Haschoa

Trauer, Hoffnung, Mut

Gedenken in Israel: Für zwei Minuten steht am Jom Haschoa alles still. Foto: Flash90

Was ist das Wort für millionenfachen Mord an Juden? Schoa? Holocaust? Beides Lehnworte, die Frage bleibt unbeantwortet; erst recht andere Fragen, die Überlebende der Konzentrationslager als Erste stellten. Darunter die nach Erfüllung der religiösen Pflicht, am Jahrestag des Todes eines Angehörigen Kaddisch zu beten. Einige Autoritäten schlugen eher hilflos vor, als Ersatz an Tischa beAw zu trauern, dem Jahrestag der Tempelzerstörung, ohnehin ein Trauertag.

In der Tat markiert diese Katastrophe vor rund 2000 Jahren den Beginn des Leidenswegs der Juden im Exil. Juden seither haben an diesem Datum Ermordete der Kreuzzüge betrauert, der Inquisition, der Verbannungen; die mit absurden Vorwürfen wie Gottesmord, Brunnenvergiftungen, Blutbeschuldigungen und Schuld an der Pest Verfolgten ebenso.

absurditäten Solcher Wahn hält sich hartnäckig bis heute, sogar ergänzt um neue Absurditäten: Juden lenken Märkte und Medien, Wissenschaft, Pandemien, überhaupt die Weltpolitik – von Israelhass ganz zu schweigen. Den millionenfach industriell betriebenen Mord in diese Reihe einzufügen, erschien den Überlebenden unzumutbar, ohne die vorherigen Morde zu verharmlosen.

Stattdessen wurde an vielen Sedertafeln mit neuen Ritualen des Aufstands im Warschauer Ghetto gedacht. Schließlich begann der Aufstand an Pessach, jedem Juden bekannt als Fest der Befreiung. Die Tradition lieferte also das Signal zum Aufstand, umgesetzt als aktueller Auftrag, Würde zu erlangen. Nie war Tradition unmittelbarer und nötiger als in diesem Moment. Die Ehrung für die Helden wurde mit der der Opfer verbunden – in dieser Reihenfolge. Es war klar, dass beides zusammengehört. Gedenkstunden heute bekommen dadurch eine zusätzliche Bedeutung, da auch die Generation gewürdigt werden soll, die nun schwindet.

Einige aus dieser kleinen Schar empfanden die Staatsgründung Israels als Konsequenz des Freiheitskampfes, der in den Ghettos und Lagern begann. Ein Staatsakt sollte her. Beim ersten Jahrestag der Staatsgründung wurde ein Gedenken an die Ermordeten den Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag vorangestellt. Es wurde derer gedacht, die zur Verteidigung des jungen Staates fielen. Erneut wurde deutlich: Unterschiedliche Tote müssen unterschiedlich betrauert werden.

staatsgründung Ein eigener Gedenktag sollte ausdrücken, dass der uralte Freiheitsdrang den Aufstand im Warschauer Ghetto beflügelte, der wiederum in die Staatsgründung mündete. Der gesuchte Gedenktag konnte somit nur zwischen Pessach und dem Unabhängigkeitstag liegen.

Der Gedenktag liegt zwischen Pessach und dem Unabhängigkeitstag.

Eine intensive öffentliche Debatte ergab: Es soll der achte Tag vor dem Unabhängigkeitstag sein. Damit würde man den gestellten Anforderungen gerecht: Acht Tage entsprechen der Dauer von Pessach im Exil, und der Aufstand, der zu Pessach begann, wird mit dem Kampf um Unabhängigkeit verbunden, um Exil und Verfolgung zu beenden.

So wurde der 27. Tag des jüdischen Monats Nissan zum Jom Haschoa we-Hagwura (Tag der Schoa und des Heldentums) erklärt. Da der Opfer sowie des Widerstands gedacht wird, soll der Tag nicht nur Trauer, sondern auch Hoffnung und Mut zum Ausdruck bringen und ein Heldenepos bieten, ein Gründungsmythos, wie in jedem Land nötig.

heldenepos Der Kampf gegen Nazis ist in vielen Ländern ebenfalls ein Heldenepos. Aktuelles Beispiel ist Russland. Die Verleihung des Ehrentitels »Garde« an die Einheit, die in Butscha gemordet hat, entspricht dem Epos, den antifaschistischen Kampf zu führen. Das ist nichts Neues: Auch 1968 in Prag und 1956 in Budapest erklärte man russischen Soldaten, sie kämpften gegen Nazis – eine Carte blanche für Verbrechen. Aus Mythos wird Mord.

Hierzulande schreckten junge Leute auf »Querdenker«-Demos nicht davor zurück, sich mit Anne Frank zu vergleichen (Isolation!) oder mit Sophie Scholl (Flugblätter im Widerstand!). Das Epos hält für Unsinn und Unmenschlichkeit her.

Unsere Helden werden missbraucht. Nun müssen wir jene verteidigen, die uns verteidigten. Sie erlangten Würde für sich und damit für uns, ganz nach dem uralten Muster von Pessach: Der Exodus hat auch uns die Freiheit gebracht. Unsere Würde steht auf dem Spiel, ebenso die der Opfer, und die Helden hätten sich umsonst hingegeben.

sirenen Israel hält an Jom Haschoa we-Hagwura minutenlang zu Sirenen inne. Dann bleibt jeder stehen, der Verkehr kommt zum Erliegen, man steigt aus den Fahrzeugen und verharrt regungslos auf der Fahrbahn. Aus den Geschäften treten Verkäufer und Kunden schweigend vor die Tür. In Büros und Amtsstuben, in Klassenräumen und Gerichten kommt die Arbeit zum Erliegen, alles ruht in stillem Gedenken. Niemand gibt sich davon unbeeindruckt.

Dieser Gedenktag liegt zwischen Pessach und dem Unabhängigkeitstag. Gedenken an den Exodus, an den Ghetto-Aufstand und schließlich an die Unabhängigkeit bilden eine Kette, von der Antike bis zu uns im Hier und Jetzt. Diese Kette sprengt Ketten, indem sie uns Helden und Vorbilder bietet. Sie zu ehren, heißt gerade jetzt, sie auch zu schützen: gegen jegliche Vereinnahmung, die nur Dummheit und weiteres Blutvergießen nach sich zieht. Gedenken ist mehr als Trauern. Es ist Reparatur an einer kaputten Welt.

Der Autor ist Rabbiner der Budge-Stiftung in Frankfurt/Main.

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