Der sportlich-elegante und von »Stärke« zeugende Jeep meiner Eltern rollt durch die, wie so oft, verstopften Straßen von Berlin. Die Sonne geht gerade unter, und ich denke daran, wie viele unzählige unerledigte Hausaufgaben, Termine, Playdates und Verwandtenbesuche mich am kommenden Wochenende erwarten. Ich bin müde, genieße den orangeroten Himmel im Zusammenspiel mit den fast schwarzen Wolken und dem graublauen Himmel.
Meine Schwester Esther ist bereits eingeschlafen und hält noch die Reste ihres angeknabberten Schulbrots in der Hand. Die Brotdose fällt auf den Boden des Jeeps, und während ich versuche, die wohlriechenden Schalen der Mandarinen vom Boden zu sammeln, um meine Mutter vor einem drohenden Atemstillstand zu bewahren, kracht es.
TAGTRAUM Der Jeep kommt augenblicklich zum Stehen. Ich erwache aus meinem Tagtraum und orientiere mich nach draußen. Ich kann vor uns ein Auto erkennen, das wohl gerade rechts abbiegen wollte, und einen Radfahrer, der schimpfend und hantierend außer sich vor Wut und anscheinend unverletzt am Straßenrand sein kaputtes Fahrrad aufrichtet.
Hoffentlich merkt jemand, dass ich existiere.
»G’tt sei Dank«, sage ich lachend und denke an Chanukka, während ich meinen Vater sagen höre: »Diese behämmerten Radfahrer …«
WUNDER Ein Wunder, ja wirklich ein Wunder ist es, dass dem Radfahrer nichts passiert ist. Oft bin auch ich mit meinem Mountainbike unterwegs und lasse mir den Wind um die Nase wehen. Dann genieße ich meine Freiheit und fühle mich ganz und gar unabhängig und lebendig.
Gerne überhole ich dann die im Stau steckenden Busse und auch all die großen Jeeps. Niemand spielt mir dabei unaufhörlich Klassikradio vor oder telefoniert in meinem Beisein überlaut per Smartphone mit seinen Kollegen oder Freunden. Und schon höre ich die Stimme meiner besorgten Mutter, wenn ich das Fahrrad nehmen will: »Muss das sein? Kannst du nicht gehen oder den Bus nehmen? Warte, ich fahr dich schnell.«
NÄCHTE Ach, wie schön Berlin ist! Gerade in dieser Zeit des Jahres werden die Nächte noch heller. Alles ist erleuchtet und lädt zum Träumen ein.
Aber wir sind in unserer Straße angekommen, und meine plärrende kleine Schwester reißt mich endgültig aus meinem Traum. Wir haben keinen Jeep. Wir fahren S-Bahn.
Möge meine Mutter dieses Jahr keine Hektik verbreiten.
Ich helfe meinen Eltern, die Einkäufe zu schleppen, und trage unsere Schulranzen und meinen Geigenkasten ins Haus. In diesem Moment wünsche ich mir ein riesengroßes Wunder für Chanukka.
Möge meine Mutter dieses Jahr keine Hektik verbreiten, möge mein Vater nicht erst dann nach Hause kommen, wenn die Kerzen schon heruntergebrannt sind. Möge meine Schwester nicht wieder mit unzähligen glitzernden rosafarbenen Geschenken bedacht werden. Mögen meine Großeltern zu Besuch kommen, mögen meine Freunde bei uns sein können, ja, und zwar alle, auch Nico und Karim.
SUFGANIOT Mögen andere Kinder bei den Weihnachtskonzerten spielen, die auf meinem Terminzettel stehen. Hoffentlich gibt es an Chanukka nicht nur Süßspeisen, obwohl ich Sufganiot und Latkes sehr gern esse. Und hoffentlich beruhigen sich alle Politiker, über die sich meine Eltern unentwegt unterhalten. Ja, hoffentlich merkt jemand, dass ich existiere.
»Joshua?«, höre ich meinen Vater. »Josh, träumst du? Geh und hilf deiner Schwester bei den Hausaufgaben. Du bist doch ein Supermathehirn. Ich habe leider gleich einen Termin.« Ich steige die Treppen hinauf und bin superfroh, zu Hause zu sein.