»Raw Jehuda sagte: ›Die Nacht wurde nur für den Schlaf geschaffen.‹ Rabbi Schimon ben Lakisch aber sagte: ›Das Mondlicht wurde für das nächtliche Torastudium geschaffen‹« (Eruwin 65a).
Die kontinuierliche und beständige Beschäftigung mit der Tora und der aus ihr erwachsenen Texte ist eine Grundnorm der Tradition. »Das Gebot des Torastudiums wiegt alle anderen Gebote auf«, heißt es programmatisch in der Mischna (Peah 1,1).
meinungsverschiedenheit Dementsprechend geht es in dieser Meinungsverschiedenheit zwischen Raw Jehuda und Rabbi Schimon ben Lakisch, einem babylonischen und einem galiläischen Amoräer aus dem 3. Jahrhundert n.d.Z., nicht um Nebensächlichkeiten.
Raw Jehuda möchte anscheinend allein die hellen Stunden des Tages dem wertvollen Studium widmen, in dessen dunkler Hälfte dagegen den ermüdeten Gliedern des Geistes Ruhe gewähren. »Denn Seinem Geliebten gewährt der Ewige Schlaf«, hallt es gedanklich ähnlich aus dem Buch der Psalmen (127,2).
Rabbi Schimon ben Lakisch auf der anderen Seite verlangt, einen gewichtigen Teil der Nacht der geistigen Betätigung zu weihen. Und der größere Teil der talmudischen Literatur ist auf seiner Seite. »Rabbi Chija sagt: ›Wer sich des Nachts mit der Tora befasst, dem gesellt sich die göttliche Präsenz zu‹« (Tamid 32b). Über den frommen König David erzählt die Gemara (Berachot 3b) gar, dass er die erste Nachthälfte im Halbschlaf verbrachte, die zweite aber gänzlich durchwachte, um sich dem Studium der Tora hinzugeben.
Damit David um Mitternacht auch wirklich aufstünde, hätte er außerdem ein Saiteninstrument so im Raum platziert, dass der zum Höhepunkt der Nacht wehende Nordwind dieses wie einen Wecker zum Erklingen brächte. Viele spätere Gelehrte sind seinem Beispiel gefolgt. Über den Gaon von Wilna wird erzählt, dass er sich bemüht hätte, täglich nur viermal eine halbe Stunde zu schlafen, auf dass er die restliche Tag- und Nachtzeit dem Studium zugutekommen lassen konnte.
MAXIME »Tag und Nacht sollst du dich mir ihr befassen«, lautet das zeitlose Wort des Ewigen an Jehoschua (1,8), das den pflichtbewussten Gelehrten aller Generationen dabei als Maxime und Vorbild diente. Und die intellektuellen Früchte, die man sich davon versprach, waren prall und üppig.
»Obwohl es eine Mizwa ist, am Tag und in der Nacht zu lernen, erwirbt der Mensch doch den Großteil seiner Weisheit nur in der Nacht. Darum hüte sich jeder, der die Krone der Tora erhalten will, davor, auch nur eine einzige Nacht sein Studium auszusetzen« (Rambam, Mischne Tora, Hilchot Talmud Tora 3,13).
Wenn nun so viel für das nächtliche Studium spricht, wie konnte dann der Amoräer Raw Jehuda in der obigen Gemara überhaupt auf die Idee kommen, die Nacht sollte dem Schlaf dienen? Wie so oft in talmudischen Diskussionen spricht tatsächlich auch einiges für Raw Jehudas Standpunkt.
Der Rambam etwa, der ebenfalls des Nachts das Studium pflegte, weiß sehr wohl, dass ein solch umfassendes Lernen uns zwar als Ideal am Horizont vorausleuchten kann, jedoch die Mehrheit der Menschen durchaus ihren Schlaf benötigt. Entsprechend empfiehlt er an anderer Stelle in seiner Mischne Tora jedem Juden acht Nachtstunden Schlaf (Mischne Tora, Hilchot Deot 4,4).
studium Auch erlaubt Maimonides nicht (anders als der Schulchan Aruch, Orach Chajim 231,1), dass man tagsüber schlafe, um nachts zu lernen (Hilchot Deot 4,5). Er stimmt demnach also Raw Jehuda zu, dass hauptsächlich der Tag dem Lernen dient, das die Nacht durchwachende Studium dagegen eine zusätzliche, höhere Stufe auf der Leiter des individuellen Gottesdienstes darstellt – keinesfalls aber auf Kosten des Tages kommen darf (vgl. Sukka 26b).
In diesem Sinne schließt auch die Gemara ihre Diskussion ab: »Man sprach zu Rabbi Sejra: ›Deine halachischen Einsichten sind überaus scharfsinnig.‹ Er antwortete ihnen: ›Das kommt daher, dass ich diese am Tage erworben habe.‹«