Nach einigen Jahren im Lehrhaus drängt sich jedem Studenten die Frage nach seiner beruflichen Zukunft auf. Für welche Wege sich Rabbi Jochanan und Ilpha entschieden, erzählt uns die Gemara im Talmudtraktat Taanit (21a).
Die beiden jungen Männer studierten zusammen die Tora und befanden sich in großer materieller Not. »Da sprachen sie: Wohlan, wir wollen eine Geschäftstätigkeit aufnehmen und an uns in Erfüllung gehen lassen den Schriftvers ›Jedoch soll es unter dir keine Armen geben‹ (5. Buch Mose 15,4). Darauf gingen sie weg, setzten sich unter eine baufällige Mauer und aßen.«
Dienstengel Der Talmud erzählt weiter, wie zwei Dienstengel kamen. »Und Rabbi Jochanan hörte, dass der eine Engel zum anderen sagte: ›Wollen wir die Mauer auf sie stürzen lassen und sie töten, weil sie das ewige Leben lassen und sich mit dem zeitlichen Leben befassen?‹ Darauf sprach der andere: ›Lass sie, denn einer ist unter ihnen, dem die Stunde günstig ist.‹ Rabbi Jochanan hörte dies, Ilpha aber hörte es nicht. Da sprach Rabbi Jochanan zu Ilpha: ›Hat der Meister etwas gehört?‹
Dieser antwortete: ›Nein.‹ Da sagte sich Rabbi Jochanan: ›Da ich es gehört habe und Ilpha nicht, so bin ich es wohl, dem die Stunde günstig ist.‹ Darauf sprach Rabbi Jochanan: ›Ich will umkehren und an mir in Erfüllung gehen lassen den Schriftvers: Denn niemals wird es im Lande an Armen fehlen (5. Buch Mose 15,11). Alsdann kehrte Rabbi Jochanan um, Ilpha aber nicht.«
Lehrhaus Jahre später kam Ilpha zurück. Rabbi Jochanan war inzwischen Leiter des Lehrhauses. Da sprachen einige Männer zu Ilpha: Wenn du hiergeblieben wärst und studiert hättest, würdest du dann nicht das Amt erhalten haben? »Da ging Ilpha hin, klammerte sich an den Mast eines Schiffes und sprach: ›Wenn jemand mich etwas aus den Lehren des Rabbi Chija und das Rabbi Oschaja fragt und ich es nicht mit einer Mischna zu belegen weiß, so will ich mich vom Schiffsmast stürzen und ertrinken.‹ Hierauf kam ein Greis und fragte ihn nach der Quelle einer bestimmten Barajta. Ilpha bestand diese schwere Prüfung.«
Warum hatten die beiden Torastudenten, die aus guten Gründen in die Geschäftswelt eintreten wollten, sich unter eine baufällige Mauer gesetzt? Das ist gefährlich und daher verboten. Wir müssen annehmen, dass Ilpha und Rabbi Jochanan sich der Gefahr nicht bewusst waren. Das Motiv einer baufälligen Wand kommt im Talmud mehrmals vor; stets handelt es sich um eine Prüfungssituation.
In unserer Geschichte treten zwei Dienstengel als Prüfer auf. Rabbi Jochanan hört ihren Dialog, Ilpha nicht. Ist er schwerhörig? Ferner möchten wir wissen, warum Rabbi Jochanan seinem Kommilitonen nicht erzählt, was er gehört hat.
Entscheidung Wie der israelische Talmudgelehrte Admiel Kosman ausführt, symbolisieren die Engel in unserer Geschichte die nachträglichen Bedenken von Rabbi Jochanan. Ilpha hegte keine Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidung, und daher hörte er nichts. Rabbi Jochanan sah keinen Grund, seinen Kollegen zu verunsichern. Er aber, der das Gespräch der Engel gehört hatte, revidierte seine Entscheidung und kehrte in die Jeschiwa zurück.
Das vom ersten Engel vorgebrachte Argument verdient eine kritische Betrachtung. »Wollen wir die Mauer auf sie stürzen lassen und sie töten, weil sie das ewige Leben lassen und sich mit dem zeitlichen Leben befassen?« Ist das ein legitimes Argument? Ist die Beschäftigung mit dem »zeitlichen Leben« nicht ebenfalls wichtig und wertvoll? Nicht jeder fromme Jude kann und muss den Lebensweg gehen, den der Engel für den einzig richtigen hält. Rabbi Jochanan wusste dies. Deshalb versuchte er nicht, Ilpha umzustimmen.
Sowohl Rabbi Jochanan als auch Ilpha hatten großen Erfolg: der eine in seiner Talmudakademie, der andere im Geschäftsleben. Der schwere Mischnatest, den Ilpha nach seiner Rückkehr mit Bravour bestand, zeigt uns, dass man durchaus Toralernen und Berufstätigkeit erfolgreich miteinander verbinden kann.