Wer Pessach feiert, und sei es nur mit einem Stückchen Mazze, sollte auch Schawuot feiern, und sei es nur mit einem Joghurt. Das wäre das Mindeste, und dazu konsequent, denn beide Feste bedingen beziehungsweise ergänzen einander: Zu Pessach feiern wir unsere körperliche Freiheit, zu Schawuot die geistige.
Das Zählen der 49 Tage dazwischen verbindet diese beiden Pole – als Countdown zum Höhepunkt einer Freiheit, die zu Pessach eingeleitet wird und zu Schawuot ihre Vollendung findet. Der Talmud (Pessachim 42b) bezeichnet Schawuot daher als Atzeret schel Pessach: Abschluss des Pessachfestes. Die Tora und ihre tägliche Annahme ist der Grund für die Befreiung aus der Sklaverei; an Schawuot vervollständigen wir mit Matan Tora, also der Übergabe der Tora, unsere zu Pessach begonnene Freiheit mit einem geistigen Fundament.
Bewusstsein Wir wurden also befreit, um mit der Freiheit etwas anzufangen und sie zukunftssicher zu bewahren. Wie dieses Konzept jüdischen Bewusstseins wirkt, wurde vor genau 70 Jahren dramatisch deutlich: Unmittelbar nach der Befreiung wurden in den DP-Camps Schulen errichtet, Existenzen aufgebaut und Familien gegründet. Das ist eine Leistung unserer Eltern und Großeltern, die nicht genug gewürdigt werden kann.
Sie konterten Unterdrückung und Tod mit Bildung und neuem Leben – wie die Generation am Sinai. Und wie keine Generation seitdem hat die Generation der DPs erlebt, erst tief zu fallen, um dann gerettet zu werden und ein neues Leben zu beginnen. Grundlage dafür war bei der Befreiung ein schon immer vorhandener Glaube an eine bessere Zukunft. Die Tora kam zu den Befreiten; auch und gerade zu den Kindern unter ihnen. Inzwischen haben sie selbst Kinder und Enkel: Das sind wir!
Wir haben ein lebensbejahendes Erbe geschenkt bekommen, das wir mit Freude und Respekt annehmen. Die Vision, dass ganz Israel bei der Übergabe der Tora versammelt ist, hat für die Nachkommen der Überlebenden, gerade hier in Deutschland, eine ganz unmittelbare, existenzielle, ja persönliche Bedeutung. Die jüdische Nachkriegsgemeinschaft wurde in den DP-Camps gegründet von Flüchtlingen, die nichts hatten außer dem nackten Leben und dem Glauben an eine bessere Welt.
Bewunderung Dieser Glaube ist eben religiös begründet, wenn auch nicht allein religiös erklärbar. Seit Urzeiten tradiert und tief verwurzelt im jüdischen Bewusstsein, auch und gerade durch die Vision der Übergabe der Tora am Sinai, sind wir alle ein Teil davon. Das ist Judentum – ein Phänomen, das Bewunderung hervorruft.
Verwunderung hingegen rufen Versuche hervor, das Wort Gottes herabzusetzen; aktuell von christlichen Theologen, die wohl nicht wissen, was sie tun. Andere Christen stellen sich dem wacker entgegen und weisen darauf hin, welch unheilvolle judenfeindliche Tradition sich da entfaltet. Von dieser Stelle aus sei ergänzt: Sie hat stets Unheil auch über die Christenheit gebracht, vor allem als Begleiterscheinung populistischer Entwicklungen.
Aktuell ist in erschreckender Konsequenz und Opportunität zu beobachten, wie sich einige Theologen zu Mitläufern eines zunehmenden Antisemitismus machen. In diese Gemengelage scheint auch die alte Diskussion um die Abschaffung von Pfingsten als gesetzlichem Feiertag zu wirken. Nun ist Pfingsten, wie alle christlichen Hauptfeste, eine Entsprechung zu einem jüdischen Fest (Apg. 2,1): Schawuot!
Das Alte Testament im Christentum abzuwerten, wertet auch die christlichen Hauptfeste ab – an Pfingsten den Heiligen Geist. In letzter Konsequenz wird dadurch das ganze Christentum abgewertet; auch wenn das Alte Testament eben nicht »identisch mit der Hebräischen Bibel ist«, wie zuletzt auch ein Bischof bemerkte.
Weisung Juden und Christen werden durch eine gemeinsame Schrift getrennt: Das Alte Testament ist genauso christlich wie das Neue Testament; die Tora ist jüdisch und kein Testament, sondern Weisung. Die Übergabe der Weisung zu Schawuot entspricht im Christentum der Aussendung des Heiligen Geistes zu Pfingsten. Christentum ohne Pfingsten und Heiligen Geist ist so wenig Christentum wie Judentum ohne Schawuot und Tora (die auch festlegt, wann diese Feste stattfinden).
Das können auch Juden von dieser Diskussion unter Christen um den Stellenwert des Alten Testaments lernen: kein Neues Testament ohne Altes; kein Altes Testament ohne Tora. Schließlich ist die christliche Dreifaltigkeit nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern fußt auf dem jüdischen Prinzip: G’tt-Tora-Israel, wonach die Schrift das Medium der Offenbarung ist. Will das Christentum das »Neue Israel« sein, muss es eben auch das »Alte Testament« würdigen.
Uns Juden bleibt die Tora. Deshalb also sollte man Schawuot feiern, und sei es nur mit einem Joghurt. Stilvoller wäre es, auch etwas Honig dazuzugeben, denn: »Honig und Milch sind unter deiner Zunge« (Hohelied 4,11). Gemeint ist jeder, der verdient, die Tora anzunehmen – also wir alle.
Der Autor ist Rabbiner im christlich-jüdischen Altenheim der Budge-Stiftung in Frankfurt/Main.