Und Jakow zog von Beer Sheva aus und ging nach Charan.» Der Wochenabschnitt Wajeze berichtet uns vom Beginn der Reise unseres Stammvaters Jakow. Bei ihrem Abschluss steht er als vom Ewigen gesegneter friedlicher «Gotteskrieger» – Jisrael – da, der mit der Fülle seiner Nachkommen den Beginn des werdenden Gottesvolks markiert.
Wie bei den Stammvätern üblich, ist auch Jakows Erwählung mit einem Exil verbunden. So war Awraham in seinen 70ern, als ihm Gott erstmals in Charan erschien und ihm auferlegte, seine Heimat zu verlassen. Nun ist auch Jakow Ende 70. Gott erscheint ihm – auf seinem entgegengesetzten Weg nach Charan – in Beit El und bestätigt den Segen Awrahams und Jizchaks. Jakow schwört nach dem Anblick der mächtigen, himmlischen Leiter sogleich, dass er an diesem Ort eine Gottesstatt bauen werde – einen Schwur, den er dann bei seiner Rückkehr mit dem Bau eines Altars auch einlöst. Doch damit nicht genug. Von der nächtlichen Vision ganz hingerissen, bezeichnet Jakow den Ort als «Stätte Gottes» und als «Tor des Himmels».
Diese Formulierung hat für die klassischen Kommentatoren, verschiedene Probleme aufgeworfen: Wie kann Jakow einen vermeintlich profanen Ort wie Beit El nördlich von Jerusalem als Konzentrationspunkt der göttlichen Aktivität bezeichnen, wo doch die Heilige Stadt ganz in der Nähe liegt? War es nicht Jerusalem, wo der Gottespriester Malkisedek lebte und wohin sich Awraham auf den Weg machte, um Jizchak zu opfern? War es nicht Jerusalem, wie unsere Weisen uns lehren, wo bereits Kain und Hewel ihre Altäre bauten (Jalkut Schimoni Bereschit 35) und wo ihr Vater Adam aus der Erde geformt wurde (Jeruschalmi, Nasir 7b)? Ja, war es denn nicht auch Jerusalem, aus dessen Grundfelsen die ganze Erde erschaffen wurde (Joma 54b)? Wieso also passiert Jakow auf seiner Reise aus Beer Sheva den heiligen Ort Jerusalem und empfängt seine Offenbarung in Beit El?
Deutung Unsere Weisen waren sich daher einig, dass Jakow diese Leiter in Jerusalem gesehen haben muss. Allerdings machen sie verschiedene Vorschläge, wie dies zu verstehen sei. Rabbi Jehuda, der Sohn Rabbi Simons, meint, dass die Leiter vom Tempelberg in Jerusalem ihren Ausgang nahm und dann über Beit El sichtbar wurde, wo Jakow sie erblickte und daraufhin den Herkunftsort der Leiter, also den Berg Moria, segnete (Bereschit Rabba 9,7).
Ein anderer Midrasch, von Raschi (1040–1105) ausgedeutet, schreibt, dass die Leiter in Beer Sheva in den Himmel stieg und gemäß Jakows Reiseroute ihren Höhepunkt über Beit El erlangte, wodurch das Zentrum der Leiter über Jerusalem erschien, das zwischen dem südlichen Beer Sheva und dem nördlichen Beit El liegt. Nach Raschis eigener Interpretation sei der Berg Moria in jener Nacht nach Beit El versetzt worden, sodass dies der Ort war, auf dem Jakow schlief.
Der Ramban, Nachmanides (1194–1270), meint gar, dass sich die Erde unter Jakow in Beit El zusammengezogen habe, sodass auch hier Jerusalem der eigentliche Ort des Geschehens war. Der Ralbag, Gersonides (1288–1344), deutet, dass die unbestimmte Benennung der nächtlichen Szene auf «Hamakom» (deutsch: der Ort) hinweisen müsse, womit die Tora Jerusalem bezeichnet.
Wie üblich, widerspricht Awraham ibn Esra (1089–1167), der große Meister des wörtlichen Sinns (Pschat), diesen Grenzverschiebungen, sofern sie historisch gemeint sein sollen. Er meint, diese Nacht habe sich gänzlich in Beit El abgespielt. Andere, wie der Malbim (1809–1879), folgen ihm. Wie aber ist dann diese Dichotomie von Beit El und Jerusalem zu verstehen?
Eine Antwort darauf mag man erneut in der Parallelität von Awraham und Jakow suchen. Auch unser Stammvater Awraham baute in der Nähe von Beit El, nämlich «zwischen Beit El und Ai» einen Altar, bevor er sein ägyptisches Exil antrat (1. Buch Mose 12). Bei seiner Rückkehr nach Israel begibt er sich wieder zu diesem Altar, wo er sich freiwillig niederlässt, bevor Gott ihn nach Chewron schickt (1. Buch Mose 13).
Jakow wiederum vollführt eine ähnliche Runde: Mit einem Aufenthalt in Beit El vor seiner Abreise nach Charan kehrt er schließlich dahin zurück, um seinen eigenen Altar zu bauen. Awraham schließt einen südlichen Kreis um die Region von Beit El, und Jakow fügt einen nördlichen hinzu.
Mischkan Die ganze Bergebene von Schechem bis Jerusalem, in deren Zentrum sich Beit El befindet, wird von Mosche Rabbenu als die gesegnetste des ganzen Landes Israel bezeichnet (5. Buch Mose 33). Wie ist dies zu verstehen? Die Antwort kann man aus den Stationen des Mischkans, des Stiftszeltes, lernen: Nach der Landnahme befindet es sich zunächst in Schechem, wandert dann nach Beit El, von dort nach Schilo und letztlich nach Jerusalem, wo dann der Tempel gebaut wird. Die ganze Region war also in der Lage, die wandernde Schechina, die göttliche Präsenz, aufzunehmen. Auch topografisch ist dies eine klar abgesteckte Region – es sind die Berge Schomrons.
«Bevor Jerusalem erwählt wurde, war ganz Eretz Jisrael koscher (für die Schechina)», lehren uns die Weisen (Mechilta 1,4). Offenbar galt aber, dass der Bereich zwischen Schechem und Jerusalem vorzüglicher war, denn allein hier wanderte das Mischkan herum. Beit El selbst ist nicht heiliger als das restliche Bergland der Umgebung, doch es befindet sich in dessen Zentrum. Deshalb errichteten Jakow und Awraham ihre Altäre in seiner Nähe. Die Schechina wählte sich aber wegen der künftigen Bedeutung Jerusalems schließlich allein den Berg Moria aus jener heiligen Region als ewigen Sitz aus, «denn der Ewige hat Zion erwählt, Er begehrt es als Seinen Sitz» (Psalm 132,13).
Wenn Jakow also vom «Tor des Himmels» spricht, dann schließt dies nicht bloß Beit El ein, sondern auch das umliegende Land, inklusive Jerusalem, wie die Weisen zu Recht lehren. So heißt es auch in Psalm 125: «Jerusalem, Berge umkreisen es, und der Ewige umkreist Sein Volk, von nun an bis in Ewigkeit.»
Der Autor studiert Jüdische Theologie an der Universität Potsdam.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Wajeze erzählt von einem Traum Jakows. Darin sieht er eine Leiter, auf der Engel hinauf- und hinuntersteigen. In diesem Traum segnet der Ewige Jakow. Nachdem er erwacht ist, nennt Jakow den Ort Beit El. Um Rachel zu heiraten, muss er sieben Jahre für ihren Vater Lawan arbeiten. Doch der führt Jakow hinters Licht und gibt ihm Rachels Schwester Lea zur Frau. So muss Jakow weitere sieben Jahre arbeiten, bis er endlich Rachel bekommt und als reicher Mann seinen Schwiegervater Lawan verlässt.
1. Buch Mose 28,10 – 32,2