Was macht Menschen glücklich? Und kann man das Glücklichsein lernen? Oder haben die Glücklichen einfach Glück, während die Unglücklichen eben Pech haben? Diese Fragen bewegen uns Menschen seit Urzeiten.
Jüngere Studien deuten dabei darauf hin, dass religiöse Menschen glücklicher sind als nichtreligiöse. So stellte das amerikanische Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center 2019 fest, dass mehr als ein Drittel der religiösen US-Amerikaner sich selbst als »sehr glücklich« bezeichnet – im Vergleich dazu tut das nur ein Viertel der Nichtreligiösen. Auch in Israel gaben die Charedim, also die streng Orthodoxen, bei einer Studie der Zeitung »Haaretz« an, am glücklichsten zu sein. Danach folgten die modernen Orthodoxen, die Konservativen und schließlich die Säkularen, die am unglücklichsten zu sein scheinen.
Die Juden tragen die Dankbarkeit sogar in ihrem Namen.
Unbeantwortet bleibt dabei allerdings die Frage, ob religiöse Menschen durch die Religion oder den Besuch von religiösen Veranstaltungen glücklicher werden oder ob sie vorher schon glücklich waren und deshalb zur Religion tendieren. Sind religiöse Menschen glücklicher oder sind glückliche Menschen religiöser? So oder so: Selbst wenn Religion zweifelsfrei glücklich machen würde, dürfte es kaum einen Run auf Synagogen geben. Und nur wenige dürften sich auf den steinigen Weg religiöser Praxis begeben.
Dabei hat gerade das Judentum einige Rezepte zu bieten, die bei sorgfältiger Zubereitung ein glücklicheres Leben versprechen. Eines der besten ist Dankbarkeit. Der amerikanische Autor Dennis Prager etwa, dem wir das tiefsinnige Buch Happiness Is a Serious Problem verdanken, schrieb dazu: »Ja, es gibt ein ›Geheimnis des Glücks‹ – und das ist die Dankbarkeit. Alle glücklichen Menschen sind dankbar, während undankbare Menschen nicht glücklich sein können. Wir glauben zwar, dass das Unglücklichsein die Menschen dazu bringt, sich zu beklagen. Tatsächlich ist es aber meist das Klagen, das die Menschen unglücklich macht. Werden Sie also dankbar, und Sie werden ein viel glücklicherer Mensch sein.«
Wie ein roter Faden
Diese einfache Erkenntnis findet sich auch im Zentrum des Judentums. Und sie durchzieht die jüdische Theorie ebenso wie die Praxis wie ein roter Faden. Das fängt schon beim Namen an. Oder genauer gesagt: dem Namensgeber der Juden, Jehuda. Einer der zwölf Söhne Jakobs, dessen Stamm die Wirren der Geschichte überstand, ebenso die Kriege, die Vertreibung und die Zerstörung – und schließlich zu unserem Namenspaten wurde. Und was bedeutet Jehuda? Was steckt in diesem Namen?
Das hebräische Wort für »Dank«, also »Hodaa«. Mit anderen Worten: Die Juden tragen den Dank in ihrem Namen. Sie sind das Volk des Dankes. Und gründen ihre Existenz auf der Dankbarkeit.
Doch das ist nur ein Mosaikstein, wenn auch ein entscheidender. Die Bedeutung der Dankbarkeit als Schlüssel zu einem besseren Leben wird auch an anderen Stellen deutlich. Etwa im System der Segenssprüche. Es dürfte kein Geheimnis sein, dass es im Judentum unzählige Segenssprüche, sogenannte Brachot, gibt, die in den unterschiedlichsten Situationen gesprochen werden.
Wenn man bestimmte Nahrungsmittel zu sich nimmt, bestimmte Gebote erfüllt, bestimmte Naturereignisse beobachtet, spricht man seinen Dank aus. Praktizierende Juden danken dem Ewigen nicht nur nach dem Aufwachen dafür, dass sie überhaupt wieder aufgewacht sind. Oder um es in religiösen Begriffen auszudrücken: dafür, dass Er ihnen ihre Seele nach der Nacht zurückgegeben hat. Sie danken ihm nach dem morgendlichen Gang zur Toilette auch für den Umstand, dass alle Körperöffnungen reibungslos funktionieren.
Das mag auf den ersten Blick sonderbar oder abwegig klingen. Aber bei wem die betreffenden Ausgänge einmal nicht richtig funktioniert haben, der weiß, welche Schmerzen und welches Leid damit verbunden sein können. Und der wird anschließend umso inbrünstiger für ein funktionierendes Verdauungssystem danken. Wir Juden segnen und danken also, was das Zeug hält. Zumindest die Religiösen. So auch nach dem Essen, wenn wir gut gesättigt sind, mit einem ausführlichen Tischgebet.
Durch die Brachot, die Segenssprüche, wird jeder Tag mit einem Band des Dankes durchzogen.
Das unterscheidet uns im Übrigen auch von unseren christlichen Freunden: Christen sprechen ihr Tischgebet vor dem Essen, um für die aufgetischten Speisen zu danken. Wir Juden sprechen das ausführliche Tischgebet erst nach dem Essen. Denn erst dann wissen wir, ob es auch wirklich geschmeckt hat und sich der Dank lohnt. Aber im Ernst: Für religiöse Juden ist der Alltag durchzogen von Worten, Gesten und Gedanken des Dankes. »Baruch ata Haschem …« Gesegnet seist Du, Gʼtt, für … – und dann kommt der Grund, für den wir ihn segnen. Oder mit anderen Worten: der Grund, für den wir uns bedanken.
Nicht aus den Augen verlieren
So wird jeder Tag mit einem Band des Dankes durchzogen. Und soll so im besten Fall das Gefühl der Dankbarkeit kultivieren. Dass sich auch dies irgendwann etwas abschleift, dürfte niemanden verwundern. Weswegen man sich den eigentlichen Grund immer einmal wieder ins Bewusstsein rufen muss, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Was uns zum nächsten Mosaiksteinchen führt.
Als zu Zeiten des Jerusalemer Tempels zu bestimmten Anlässen Opfer dargebracht wurden, gab es auch ein sogenanntes Dankopfer. Und unsere Rabbiner sagen dazu, dass irgendwann in der Zukunft alle Opfer obsolet werden, also nicht mehr nötig sind. Mit einer Ausnahme: dem Dankopfer. Schließlich wird es immer einen guten Grund geben, um Danke zu sagen.
Und auch die Gʼttesdienste und Gebete sind voll von Segenssprüchen und damit voll des Dankes. Mit der ein oder anderen Besonderheit. Da wäre etwa die Amida, also das tägliche Achtzehngebet, das jeder still rezitiert. Soweit man in Gemeinschaft betet, wird diese Amida anschließend von dem Vorbeter laut wiederholt. Zumindest morgens und nachmittags. Und bei der lauten Wiederholung reicht es üblicherweise, dass die Anwesenden die jeweiligen Passagen mit dem Wort »Amen« quittieren. Will heißen: Nach jedem einzelnen Segensspruch der Amida folgt ein beherztes »Amen« der Gemeinde.
Aus Überzeugung oder Erleichterung
Vielleicht ist es auch Erleichterung, weil man das ganze Gebet nicht noch einmal lesen muss, sondern der Vorbeter das übernimmt. Doch ob nun aus Überzeugung oder Erleichterung, es gibt in diesem Gebet eine Besonderheit. Eine Passage nämlich beginnt mit den Worten: »Modim anachnu lach …« »Wir danken Dir …«, gefolgt von klaren und deutlichen Worten des Dankes. Wenn der Vorbeter das Gebet nun laut wiederholt, reicht es an dieser Stelle nicht, das Gesprochene mit »Amen« zu bestätigen. Stattdessen gibt es einen eigenen, veränderten Text, den wiederum jeder Einzelne parallel zu dem Vorbeter für sich spricht.
Wir lesen in diesem Moment also unterschiedliche Worte. Warum ist das so? Weil wir alle anderen Teile des Gebets durch einen Stellvertreter vortragen lassen können, durch einen Vorbeter, dessen Worte wir lediglich bestätigen. Wenn es allerdings darum geht, »Danke« zu sagen, dann kann uns das niemand abnehmen. Dann können wir das nicht delegieren. Stattdessen müssen wir unsere Dankbarkeit selbst und höchstpersönlich zum Ausdruck bringen.
Es geht natürlich auch anders: Der Autor A. J. Jacobs etwa hat sich auf den Weg gemacht, einem jeden Einzelnen, der für seinen morgendlichen Kaffee verantwortlich ist, persönlich zu danken. Von den Plantagenbesitzern in Kolumbien über die Kaffeeanbauer, die Erntehelfer, die Fahrer und Lageristen, die Röster und Verpacker, die Transporteure und die Piloten, die Straßenbauer und Zollbeamten, die Verpackungshersteller und Verkäufer, die Ladenbesitzer und Kaffeetassenhersteller. Und so weiter und so fort.
Im Gebet dankt jeder für sich allein. Denn das können wir nicht delegieren.
Am Ende kam er auf gut 1000 Personen, bei denen er sich bedankte. Seine Erfahrungen hat er in einem Buch mit dem Titel Tausend Dank. Eine Tasse Kaffee, so viel Dankbarkeit verewigt. Und hat dabei nicht nur beschrieben, wie es ihn zu einem dankbareren und glücklicheren Menschen gemacht hat, sondern wie viel schöne Momente er auch seinen Mitmenschen beschert hat.
Das Judentum hat eben diese Idee schon seit seinen Ursprüngen verinnerlicht. Hat sie in die Textur des Alltags eingewoben und trägt sie im Namen. Und sie steht jedem offen. So wie Rabbiner Harold Kushner schrieb: »Ein dankbares Leben zu führen, ist der kürzeste Weg zu Zufriedenheit und Freude.« Oder kurz gesagt: Dankbarkeit ist der Schlüssel zum Glück. Deshalb: Danke, dass Sie meinen Text gelesen haben!