Am Anfang unserer Parascha geht es um Optionen – um die Möglichkeit, zu wählen. Mosche Rabbeinu sagt: »Re’ei anochi noten lifneichem hajom bracha uklalla« – »Siehe, Ich lege euch heute Segen und Fluch vor« (5. Buch Mose 11,26). Dieser Satz enthält eine der wichtigsten Tatsachen des Lebens, nämlich »Bechira chofschit«, den freien Willen, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden.
Was möchte uns Mosche mit dem Satz zum Segen und Fluch genau sagen? Denn es heißt weiter: »Segen – wenn sie die Tora befolgen, Fluch – wenn sie die Tora nicht befolgen« (11,27).
Es bleibt also der Leitgedanke, dass wir die Wahl haben: Wenn wir den Geboten der Tora folgen, werden wir im Leben viel Gutes erfahren. Ignorieren wir aber die Mizwot, dann erwartet uns letztendlich Schlechtes. Es scheint manchmal der mühevollere Weg zu sein, nach den Gesetzen der Tora zu handeln. Im Endeffekt kommt es darauf an, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Wir könnten diesen Satz in der Parascha auch als Warnung oder als Botschaft verstehen: Obwohl der Weg der Tora und der Mizwot manchmal mühevoll erscheint, führt er doch ganz gewiss zum Ziel. Der Weg der Sünde, auch wenn er anfangs als leichter erscheint, wird schließlich zum mühevollen.
Mosche ruft aber nicht nur dazu auf, die Tora zu befolgen. Er sagt den Menschen, dass sie hoch hinaufstreben und viel Segen und damit Erfolg und Positives erreichen sollen.
Manchmal gibt man sich mit Mittelmäßigkeit zufrieden und versucht erst gar nicht, hoch hinaus zu wollen. Statt Gemütlichkeit kann man aber durch Mizwot etwas Großes erreichen. Ob und wie wir die Mizwot erfüllen, entscheidet stets der freie Wille.
Mizwot Unsere Parascha ist voller Beispiele davon, wie wir unseren freien Willen trainieren können. Sie enthält viele wichtige Mizwot einschließlich der Kaschrut, der Zedaka und der Feiertage. Sie stellen alle Möglichkeiten dar, durch die wir viel Segen erhalten können, auch wenn es nicht einfach ist.
In einem späteren Teil der Tora geht es erneut um die Willensfreiheit: »Das Leben und den Tod habe Ich vorgelegt, den Segen und Fluch; aber du sollst das Leben wählen« (30,19).
Dieser Abschnitt macht deutlich, dass der freie Wille von unglaublicher Bedeutung ist: Man kann sich für das Leben entscheiden. Es geht also um viel mehr als nur darum, zwischen Gut und Böse zu wählen, sondern um die Wahl zwischen Leben und Tod. Warum befiehlt G’tt ausdrücklich, dass wir uns für das Leben entscheiden? Man sollte doch meinen, dass dies jeder Mensch von sich aus ganz selbstverständlich tut.
Um die Frage zu beantworten, schauen wir uns die Erschaffung des Menschen genauer an: »Und G’tt bildete den Menschen, Staub vom Erdboden, und hauchte in seine Nase den Odem des Lebens; und der Mensch wurde eine lebendige Seele« (1. Buch Mose 2,7).
Folglich sind Menschen eine Zusammensetzung aus Körper und Geist. Beide Teile haben den Wunsch, zu ihrer Quelle zurückzukehren. Der Körper neigt dazu, sich nach Gemütlichkeit und Erfreulichem zu sehen. Andererseits strebt die Seele danach, aufzusteigen und ihre Leistungsfähigkeit zu verwirklichen.
Golem Die Legende vom Golem veranschaulicht, dass sowohl Körper als auch Seele zu einem vollständigen Menschen dazugehören. Jedes jüdische Kind ist begeistert von der eindrucksvollen Geschichte des Sagenhelden. Der Legende nach hat der aus Worms stammende Prager Rabbi Löw im 16. Jahrhundert einen Golem erschaffen. Man denkt dabei an ein sehr kräftiges Wesen. Aber woraus schöpft es seine Kraft?
Nach seiner Erschaffung wurde der Golem sofort von Rabbi Löw an die Arbeit geschickt, nämlich das Ghetto gegen Angriffe zu verteidigen. Zusätzlich machte er sich als Schammes, Synagogendiener, nützlich, indem er das Bethaus ausfegte. Alles, was der Golem tat, geschah auf Befehl seines Schöpfers Rabbi Löw.
Was unterschied den Golem von den Menschen? Er besaß keinen freien Willen. Er konnte keine Entscheidungen treffen, sondern nur Befehle ausführen. Er war wie eine Maschine. Auch wenn er täglich Hunderte Dinge erledigte, waren es nie seine eigenen Entscheidungen. Er selbst trug keine Verantwortung für sein Tun, und es gab in ihm keinen Kampf zwischen Körper und Seele.
Adam Im Talmud steht, dass »Golem« gleichbedeutend ist mit »unvollendet« oder »nicht perfekt«. Der Golem ist ein Körper ohne Seele. Auch Adam besaß in den ersten zwölf Stunden seiner Existenz keine Seele. Er war unvollendet wie ein Golem. Er hatte weder Seele, noch konnte er selbst entscheiden – bis G’tt ihm den freien Willen schenkte (Sanhedrin 38b).
Mit dieser lebendigen Seele wurde uns ein wunderbares Geschenk gegeben, ein g’ttlicher Funke, der uns zu einer Kopie unseres Schöpfers gemacht hat: Auch wir können erschaffen oder zerstören, es liegt an uns und unseren Entscheidungen.
In jedem Augenblick unseres Lebens nutzen wir unseren freien Willen, wir entscheiden uns für Gut oder Böse, für die Realität oder für die Flucht aus der Realität. Wir mögen es nicht immer merken, aber wir befinden uns in einem ständigen Kampf zwischen diesen beiden Entscheidungsmöglichkeiten.
Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass wir jeden Tag unzählige Entscheidungen treffen und immer versuchen, dies bewusst zu tun. Um wahre Größe zu erlangen, um zu leben, zu kämpfen und erfolgreich zu sein, müssen wir unsere Willensfreiheit nutzen. Wir sollten nicht darauf aus sein, gemütlich zu leben und vor Schwierigkeiten davonzulaufen. Manchmal merkt man es erst später, aber oftmals erleben wir wahre Freude und Erfüllung erst durch tüchtige Arbeit und das Meistern von Herausforderungen.