Gemeinschaft

Teil des Ganzen

Die Tora verlangt von uns, ein Ganzes mit dem gesamten jüdischen Volk zu sein und doch ein Individuum mit einzigartigen Eigenschaften zu bleiben. Foto: Thinkstock

Der Monat Siwan erinnert uns an den Empfang der Tora. In unserem Wochenabschnitt steht geschrieben: »Im dritten Monat an diesem Tag«, gemeint ist der 1. Siwan, »sind sie in der Wüste Sinai angekommen.« Demnach hielt das jüdische Volk am ersten Tag des Monats Siwan am Berg Sinai an.

Der Midrasch erzählt uns, dass die Übergabe der Tora von G’tt an das jüdische Volk ausgerechnet in der Wüste geschah, an einem absolut verlassenen Ort, einem Ort, der niemandem gehört. Der Grund dafür ist, dass auf dieser Weise jeder Mensch, der dies möchte, die Möglichkeit hat, die Tora zu erhalten.

Wüste Über die Ankunft des Volkes Israel in der Wüste Sinai steht geschrieben: »Israel hielt dort an.« Es ist also in der Einzahl geschrieben – nicht »die Israeliten hielten dort an«, sondern Israel, ein Ganzes, hielt dort an. Das Volk bereitete sich gemeinsam auf die Übergabe der Tora vor. Rabbiner Pinchas Goldschmidt erklärte dazu, dass die Übergabe der Tora, ein grenzenloser Segen, gleichzeitig das komplette Ablegen des eigenen Egos und die Vereinigung mit dem gesamten Volk erfordert. Das Volk wurde »zu einem einzigen Individuum«.

Jeder Mensch kümmert sich von Natur aus in erster Linie um sich selbst. Ein solches Verhalten scheint uns naheliegend. Um nun ein »einziges Individuum« zu werden, müssen wir unsere Natur und unser gewöhnliches Verhalten ändern. Wir müssen uns von unserer Eigenliebe befreien und lernen, uns nicht nur für uns selbst zu interessieren, sondern auch an andere zu denken und uns um sie zu kümmern.

Sobald ein Mensch beginnt, sich so zu verhalten, verringert sich in seinem Umfeld der Streit. Die Einigkeit wird stärker, was folglich zu Frieden führt.

Durch das Zurückstellen des eigenen Egos lehnt der Mensch keinesfalls einen Teil seiner selbst ab, sondern er schafft eine Realität, in welcher der Stolz und der Respekt gegenüber der eigenen Person nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Des Weiteren verstärken sich seine positiven Eigenschaften, er wird barmherziger.

Der Ort, an dem wir die Tora erhalten haben, lehrt uns, wie die Welt aussehen muss und dass wir uns selbst in eine Wüste verwandeln müssen, indem wir unser Ego loslassen, sodass jeder Mensch sich in unserem Herzen wiederfinden kann.

Gesicht Im Midrasch Tanchuma lesen wir: »So wie ihre Gesichter verschieden sind, so sind auch ihre Meinungen verschieden.« In unserem Wochenabschnitt wird davon berichtet, dass jeder Einzelne aus dem jüdischen Volk seinen eigenen Stamm begleitet. Jeder Stamm hat seine eigene Flagge, die seine jeweilige Einzigartigkeit widerspiegelt. Und nicht nur die Stämme unterscheiden sich in ihrer Einzigartigkeit, sondern auch jeder Mensch verfügt über seine individuellen Eigenschaften.

Die »Flagge« eines jeden Menschen ist sein Gesicht, das seine Charakterbeschaffenheit widerspiegelt. Genau aus diesem Grund heißt »Gesicht« auf Hebräisch »Panim«, was genauso geschrieben wird wie das Wort »pnim« – »das Innere«.

Rav Reuven Kuklin lehrt uns, dass genau das die andere Seite der Medaille ist. Die Tora erkennt die Einzigartigkeit eines jedes Einzelnen an. Dies ist, wie wir sehen, sogar in der Sprache tief verwurzelt.

Wie kommt es nun, dass die Tora von uns verlangt, einerseits ein Ganzes mit dem gesamten jüdischen Volk zu sein und andererseits ein Individuum mit einzigartigen Eigenschaften zu bleiben? Ist das überhaupt möglich? Die Antwort lautet: Dies ist nicht nur möglich, sondern gerade die Tatsache, dass jeder Einzelne einzigartig ist, bezeugt die Einigkeit des jüdischen Volkes. Rabbiner Kuklin erklärt dieses Phänomen mit dem Beispiel einer Sinfonie: Die Musik entsteht aus den Geräuschen mehrerer verschiedener Instrumente. Wenn alle denselben Klang erzeugten, würde die Musik armselig klingen. Es ist genau die Einzigartigkeit aller Instrumente, welche die musikalische Harmonie und einen bezaubernden Klang entstehen lässt.

Talmud Dasselbe Konzept gilt auch für alle anderen Völker der Welt. Unsere Weisen lehren uns im talmudischen Traktat Sukka, dass es auf der Welt 70 verschiedene Völker gibt. Aus den Lehren des Gaon von Wilna zum biblischen Buch Schir HaSchirim folgt, dass die Zahl 70 ein Ganzes bedeutet, das aus verschiedenen Komponenten gebildet wird, die einander dank ihrer Einzigartigkeit vervollständigen.

Die Worte unserer Weisen deuten darauf hin, dass jedes Volk von seinem einzigartigen Charakter geprägt ist und besondere Neigungen und Anschauungen hat. Gerade diese Einzigartigkeit bietet die Möglichkeit, durch ein gegenseitiges Vervollständigen ein vollkommenes Zusammenleben zu erschaffen.

Dem entspricht auch die Ganzheit des jüdischen Volkes. Über die Familie von Jakow steht geschrieben: »70 Seelen kamen nach Ägypten.« Im hohen jüdischen Gericht, dem Sanhedrin, finden wir ebenfalls 70 Mitglieder. Wir beten und hoffen, dass all die Unterschiede und Einzigartigkeiten in unserem Volk ein ganzes Orchester in unserem G’ttesdienst bilden werden. Genauso werden sich auch die anderen Völker in all ihrer Vielfalt vereinigen, um den Willen G’ttes zu befolgen. Dies wird in den Zeiten des Maschiachs geschehen.

Somit respektieren wir also nicht nur die Individualität eines jeden Menschen, sondern legen großen Wert darauf, die einzigartigen Talente jedes Einzelnen zu fördern. Denn nur so kann er seinen wichtigen und einmaligen Beitrag in der Welt leisten.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

Inhalt
Am Anfang des Wochenabschnitts Bemidbar steht die Zählung aller wehrfähigen Männer, mit Ausnahme der Leviten. Sie sind vom Militärdienst befreit und nehmen die Stelle der Erstgeborenen Israels ein. Ihnen wird der Dienst im Stiftszelt übertragen. Bei ihnen soll von nun an jeder Erstgeborene ausgelöst werden. Zudem wird geregelt, welche Familien für den Auf- und Abbau des Stiftszelts verantwortlich sind.
4. Buch Mose 1,1 – 4,20

Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

Seit 15 Jahren werden in Deutschland wieder orthodoxe Rabbiner ausgebildet. Ein Gespräch mit dem Gründungsdirektor des Rabbinerseminars zu Berlin, Josh Spinner, und Zentralratspräsident Josef Schuster

von Mascha Malburg  21.11.2024

Europäische Rabbinerkonferenz

Rabbiner beunruhigt über Papst-Worte zu Völkermord-Untersuchung

Sie sprechen von »heimlicher Propaganda«, um Verantwortung auf die Opfer zu verlagern: Die Europäische Rabbinerkonferenz kritisiert Völkermord-Vorwürfe gegen Israel scharf. Und blickt auch auf jüngste Papst-Äußerungen

von Leticia Witte  19.11.2024

Engagement

Im Kleinen die Welt verbessern

Mitzvah Day: Wie der Tag der guten Taten positiven Einfluss auf die Welt nehmen will

von Paula Konersmann  17.11.2024

Wajera

Offene Türen

Am Beispiel Awrahams lehrt uns die Tora, gastfreundlich zu sein

von David Gavriel Ilishaev  15.11.2024

Talmudisches

Hiob und die Kundschafter

Was unsere Weisen über die Ankunft der Spione schreiben

von Vyacheslav Dobrovych  15.11.2024

Gebote

Himmlische Belohnung

Ein Leben nach Gʼttes Regeln wird honoriert – so steht es in der Tora. Aber wie soll das funktionieren?

von Daniel Neumann  14.11.2024

New York

Sotheby’s will 1500 Jahre alte Steintafel mit den Zehn Geboten versteigern

Mit welcher Summe rechnet das Auktionshaus?

 14.11.2024

Lech Lecha

»Und du sollst ein Segen sein«

Die Tora verpflichtet jeden Einzelnen von uns, in der Gesellschaft zu Wachstum und Wohlstand beizutragen

von Yonatan Amrani  08.11.2024

Talmudisches

Planeten

Die Sterne und die Himmelskörper haben Funktionen – das wussten schon unsere Weisen

von Chajm Guski  08.11.2024