Die Digitalisierung zeigt es seit Jahren, und die Corona-Krise hat die Einsicht verschärft: Orthodoxie macht Sinn. Wenn man in der eigenen Wohnung hockt und die Tage sich eher zeitlich denn räumlich unterscheiden, sind es tägliche Routinen und Rituale, mit denen wir uns der immer schneller vergehenden Zeit entgegenstellen.
Meistert das Judentum denn nicht diese Kunst? Das Erwachen in Dankbarkeit, das Morgengebet, die Smartphone-Pause am Schabbat und ausgewählte Speisen mit Segenssprüchen dazu? Die Heiligung gewisser Zeiten verbindet uns mit den kosmischen Kräften, wir leben nicht unter Spannung wie eine verschreckte Katze, sondern öffnen uns mit dem Sonnenaufgang wie die Blüten auf dem Feld und schließen uns wieder am Abend.
BAUCHATMUNG Aber wenn andere Juden auf der ganzen Welt morgens die Tefillin herausholen, rolle ich die Yogamatte aus. Yoga ist keine leere Selbstoptimierung. Es geht nicht um Bauch-Beine-Po und auch nicht um den Chia-Maulbeer-Smoothie für 8,90 Euro in Berlin-Mitte. Die Haltungen verkörpern Wahrheiten mit dem Ziel, trotz größter Anstrengung genau dann bewusst zu entspannen und in eine ruhige Bauchatmung zu kommen. Körper und Geist werden so für den Tag eingestimmt.
Gibt es einen Punkt, an dem die jüdische Tradition und die dem Hinduismus entstammende Lehre sich treffen? Nicht bloß im Sinne eines zusätzlichen Freizeitangebots im Gemeindehaus und nicht in der Hipster-Synagoge, wo hebräische Buchstaben als »Kabbalah Yoga« nachgetanzt werden?
KABBALA Das Judentum wird für seine rationale Diesseitigkeit bewundert. Die mystische Tradition des Judentums dagegen gilt als kabbalistische Geheimlehre. Diese sei erst im Alter von 40 Jahren anzufassen, wenn man den Pflichten für die Gemeinschaft nachgekommen ist. Das neue »Briefing« über die Illusion des Selbst wird einen dann nicht mehr aus der bürgerlichen Zufriedenheit werfen, so die Annahme.
Schlagen wir im Lexikon nach, findet sich unter Kabbala ein Verweis auf die Gnosis, die Lehre, dass wir Einsicht und Wissen von G’tt haben. Doch im Judentum geht es nie um eine Idee, die – wenn begriffen – alles andere ersetzt. Die Nächstenliebe ist laut Hillel zwar die ganze Tora, das Folgende nur Kommentar, doch gelten alle 613 Gebote und Verbote als verpflichtend.
SEELE Für die Kabbala heißt dies, dass G’ttes Wille sich in den 613 Geboten der Tora verdichtet hat und wir erst dann koscher leben, wenn sich der blinde Trieb dieser kühlenden Weisheit im Hier und Jetzt unterwirft. Die chassidische Auslegung der Kabbala erklärt dies mit den fünf Ebenen der Seele: Nefesch, Ruach, Neschama, Chaja und Jechida.
Nefesch gilt als körperliche Seele, die organischen Funktionen, die wir nicht bewusst steuern. Ruach ist das Energetisch-Emotionale. In Neschama werden wir bewusst, doch – wie Martin Buber sagen würde – in einer Ich-Es-Beziehung zur Welt. Einer spirituellen Ich-Du-Beziehung nähern wir uns erst in Chaja durch die Verbindung der Einzelseele mit dem Volk über die gelebte Tora. Ob Jechida eine Ich-Ich-Beziehung ist? Im Judentum wird nie von Wesensgleichheit mit dem Höchsten gesprochen.
KOSHAS Die Lehre von den fünf Ebenen der Seele ist der Yogi-Philosophie zum Verwechseln ähnlich. Die vedischen Upanischaden, eine Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus, sprechen von den fünf Mänteln, genannt Koshas. Der mentalen Ebene von Neschama entspricht der Manomaya Kosha.
Der vierte Mantel, Janamaya Kosha, ist wie Chaja die Ebene, wo Wahrheit durch Rituale in das alltägliche Leben fließt. Das Ziel ist, die eigene Seele an die Yoga-Praxis und Mythologie zu binden, wie ein Jude seine Neschama an die Tora. Einzig der fünfte Mantel, Anandamaya Kosha, wird im Vergleich zur jüdischen Entsprechung der Jechida genau definiert. Es ist die Glückseligkeit über das Einswerden mit der Ewigkeit.