Über Jahrhunderte wurden Juden im christlichen Abendland verachtet, gehasst, gequält und beraubt, weil sie mit Geld handelten, es verliehen und dafür Zinsen nahmen. Tatsächlich: Die Bibel verbietet das Verlangen von Zinsen – ein Prinzip, das die christliche Gemeinschaft übernahm: Christen durften von anderen Christen keine Zinsen nehmen.
Weil die christlichen Herrscher des Mittelalters stets in Geldnot waren, lösten sie das Problem dadurch, dass sie sich Geld von Juden liehen. Juden wurde seither ein besonderes Geschick im Geschäftsleben unterstellt – eine Annahme, die angesichts der großen Massen armer und ärmster Juden vor allem in Ostmitteleuropa offensichtlich falsch war.
Richtlinien Freilich hat der jüdische Glaube den Anspruch, das ganze Leben und damit auch das geschäftliche Leben von Jüdinnen und Juden zu regeln. Entsprechend hat das in der späten Antike entstandene rabbinische Judentum in seinem in mehreren Versionen existierenden Hauptwerk, dem Talmud, auch eine ganz eigene Wirtschafsethik entwickelt, die – obwohl unter den gesellschaftlich ganz anderen Bedingungen einer Sklavenhaltergesellschaft entstanden – auch und gerade heute Richtlinien für ein ethisch verantwortliches Wirtschaften sowie für eine moralisch sensible Unternehmensführung bereithält.
Wer also wissen will, wie sich eine zeitgemäße Unternehmensführung in der Ära des Neoliberalismus mit den Maßgaben talmudischer Ethik verträgt oder doch wenigstens vertragen könnte, kann zu einem Buch greifen, das gewiss noch lange als Standardwerk gelten dürfte. In seiner in Heidelberg entstandenen, gleichwohl auf Englisch verfassten Studie gelingt Nathan Lee Kaplan der anspruchsvolle Versuch, »Management Ethics and Talmudic Dialectics« vor dem Hintergrund ethischer Dilemmata bei der Führung eines Betriebes zu vermitteln.
Unternehmenskultur Der Autor, er ist im Hauptberuf Informatikexperte bei einer großen Consultingfirma, hat aber lange Zeit in einer Jeschiwa studiert, nimmt sich aller relevanten Themen an: der Unternehmenskultur, der Korruptionsproblematik, des »Whistle Blowing«, der sozialen Verantwortlichkeit von Unternehmen im politischen und philanthropischen Bereich sowie der Zulässigkeit von Werbungsmethoden.
Dabei überzeugt die Studie nicht nur durch die hohe betriebswirtschaftliche Kompetenz des Autors, sondern vor allem durch seine talmudische Gelehrsamkeit. Indem er beides nicht nur addiert, sondern gemeinsam vermittelt, gelingen ihm erstaunliche Lösungen, die einem nackten Profitstreben Grenzen setzen können.
So wird etwa das Thema der Verantwortung von Unternehmen gegenüber dem Staat anhand eines talmudischen Lehrsatzes erörtert, wonach es nicht zulässig sei, Steine vom eigenen Grund und Boden in den öffentlichen Bereich zu tragen. Kaplan resümiert: »Diese Tradition soll lehren, dass die öffentliche Bedeutung privater Unternehmen auch Aktionäre und Manager beeinflusst und dass diese sich konsequenterweise, zumindest in einem bestimmten Maß, als untrennbar vom öffentlichen Wohl betrachten sollten.« Bei alledem ist dem Autor bewusst, dass derartige mit dem Mittel der Analogie arbeitende Schlüsse durchaus angreifbar sind.
BWL Dennoch: Kaplans Annahme, dass sich die talmudische Dialektik für betriebswirtschaftliche Dilemmata deshalb eignet, weil es hier um komplexe Entscheidungen, unübersichtliche Handlungsfelder und soziale Güter geht, überzeugt durchaus. Bei alledem bedient er sich selbst talmudischer Argumentationsweisen, die oft genug vom vermeintlich klaren, sachlichen Argument abweichen, um über anekdotische Umwege und Wortspiele zum Punkt zu kommen. Indem Kaplan das marktwirtschaftliche Dogma von der »invisible hand« aufnimmt, aber in ironischer Weiterentwicklung von »indivisible hand« schreibt, kann er dem Atomismus der klassischen Betriebswirtschaftslehre eine Theorie kollektiver, öffentlicher Güter, einer »unteilbaren Hand« eben, entgegensetzen.
Nathan Lee Kaplan: »Management Ethics and Talmudic Dialectics. Navigating Corporate Dilemmas with the Indivisible Hand«. Springer VS, Wiesbaden 2014, 391 S., 59,99 €