Aschrei ha’am jodea truah», glücklich ist das Volk, das den schluchzenden Ton des Schofars kennt. Dieser Satz (Psalm 89,16) von König David macht die Bedeutung des Schofartones deutlich. Das Schofar ist ein Sinnbild dieser Zeit, ein Symbol für Rosch Haschana, Weckruf an den Tagen der Umkehr und des Versöhnungstages, Jom Kippur. Es ist dieser ganz besonders eindringliche Ton, der im zu Ende gehenden Monat Elul schon vielfach in den Synagogen erklungen ist und an den kommenden Hohen Feiertagen wieder zu hören sein wird.
Allein bei den Rosch-Haschana-G’ttesdiensten werden insgesamt 100 Töne geblasen. Dabei ist es nicht immer der gleiche Ton, sondern es gibt drei unterschiedliche: Tekiah, Shevarim und eben Truah. Tekiah ist ein langer, ununterbrochener Ton. Shevarim sind drei kurze, fast gebrochene Töne, Truah sind neun kurze Hornstöße in kürzester Reihenfolge.
Beim Synagogeng’ttesdienst ist es üblich, die Reihenfolge der Töne dem Tokea, dem Schofarbläser, anzukündigen. Die Töne werden traditionell mit dem «Tekiah gedolah», also dem letzten großen, lang gezogenen Ton, beendet, um den Betern auch das Ende des Schofarblasens anzukündigen. So erschallt dann auch das Schofar am Ende von Jom Kippur, bei Neilah, dem abschließenden Gebet.
Truah Shraga Simmons, Rabbiner und Mitbegründer des Internetportals «aish.com», vergleicht den Truah-Ton mit einem Wecker, der einen dazu ermahnt, endlich aufzuwachen und ehrlich und objektiv das Leben zu betrachten. Der Truah-Ton soll aus unserem spirituellen Schlummer oder Halbschlaf erwecken. «Das Schofar bringt Klarheit, Wachsamkeit und Fokus», meint Rabbiner Simmons.
In jedem Falle ist es keine besonders angenehme Erfahrung, sich seiner Versäumnisse bewusst zu werden. So wird der Shvarim-Ton – stakkatoartig, dreimal hintereinander geblasen – von Kabbalisten mit dem Seufzer des zerbrochenen jüdischen Herzens verglichen. Es klingt wie der jammernde Ton des Bedauerns, wenn man in akuter Sorge ist, oder wie das Schluchzen des Kindes, das G’tt anruft, es zu erhören.
Schließlich ist Tekiah ein ganz lang gezogener Ton, wie ein Posaunenschall oder Trompetenstoß zur Krönung eines Königs. Und eben darum geht es auch an Rosch Haschana. Wir erkennen G’tt als unseren Vater und König an: «Awinu Malkenu».
Das Schofar ist 72-mal in den biblischen Schriften erwähnt. Es wurde unter anderem genutzt, um besondere Nachrichten anzukündigen, Soldaten zum Krieg zu rufen oder die Ankunft eines Königs zu vermelden. Es war Brauch, das Schofar zur Krönung eines Königs zu blasen, wie zum Beispiel in der Geschichte von Awschalom im 2. Buch Samuel (15,10): «Wie ihr den Posaunenschall höret, so sprechet: Awschalom ist König geworden in Chewron.»
Der Klang des Schofars begleitet die Übergabe der Tora. Unter anderem wird im 2. Buch Mose (19,16) berichtet, dass am Berg Sinai Donner losbrach, Blitze zuckten und «starker Posaunenschall» zu hören war: «Das ganze Volk im Lager bebte.»
Akeda Das Schofar erinnert an die Akeda, die Bindung Jizchaks, und an den Widder, dessen Horn sich im Baum verfing und den Avraham anstelle seines Sohnes Jizchak opferte. Im Mussafgebet des Rosch-Haschana-Gebetes heißt es: «Der Opferung Jizchaks gedenke heute, seiner Nachkommenschaft in Erbarmen.»
Auch bei der Ankunft der Bundeslade in Jerusalem wurde das Schofar geblasen – «Und ganz Israel brachte hinauf die Bundeslade des Ewigen mit Jubel und Posaunenschall» (1. Chronik 15, 28) – und später im Tempeldienst genutzt.
Es begleitete die Israeliten im Kampf und half, den Feind zu besiegen. So heißt es im Buch Jehoschua über die Ereignisse vor Jericho: «Als die Menschen den Ton des Schofars hörten, riefen sie mit einem großen Geschrei, und die Mauern stürzten ein» (6,20).
Nicht zuletzt verweist das Schofar auf das Ende des Exils, wenn «in die große Posaune gestoßen» wird, wie es der Prophet Jeschajahu (27,13) voraussagt: Dann, so heißt es, werden die Verlorenen und Verstoßenen herbeikommen und sich vor dem Ewigen auf dem heiligen Berg in Jerusalem bücken, das gesamte Volk in Eretz Israel versammeln und die Erlösung bringen: «Wenn man stößt in die Posaune, werdet ihr es hören» (Jeschajahu 18,3).
Gericht Das Schofar ist ein ausgehöhltes Horn, meist eines Widders oder einer Antilope, dessen Spitze als Mundstück durchbohrt ist. Die besondere Form des Horns, das gebogen und verdreht ist, erklärte Rabbiner Israel M. Lau so: «Das soll uns daran erinnern, dass wir die Knie beugen, den Kopf senken und uns bücken müssen, wenn wir vor dem Gericht stehen.»
Schon der Prophet Jeschajahu erwähnt das Schofar als Signal für ein anstehendes Gericht: «Erhebe deine Stimme wie ein Schofar und eröffne meinem Volk ihre Verfehlungen und dem Haus Jakow seine Sünden» (58,1). An diesen Tagen des Gerichts erhält der Ton des Schofars seine ganz besondere Bedeutung: «Und lass Posaunenschall (›Schofar Truah‹) ergehen im siebten Monat am zehnten des Monats; am Versöhnungstag sollt ihr Posaunenschall ergehen lassen durch euer ganzes Land» (3. Buch Mose 25,9).
Der Neujahrstag wird in der Tora nicht «Rosch Haschana», sondern «Jom Hatrua» genannt, der Tag des Schofartons oder Posaunenschalls: «Und am siebenten Monat am ersten des Monats sollt ihr heilige Berufung haben; keine Arbeitsverrichtung sollt ihr tun; ein Tag des Posaunenschalls (Jom Truah) sei es euch» (4. Buch Mose 29,1). Und an anderer Stelle in der Tora, im 3. Buch Mose 23,24, ist der «Gedächtnistag des Posaunenschalls» (Zichron Truah) erwähnt.
Mizwa Dabei ist es eine Mizwa, eine religiöse Pflicht, das Schofar zu hören: «Gesegnet bist Du … der uns befohlen hat, die Stimme des Schofars zu hören», heißt es im Segensspruch. Allerdings geht es nicht nur darum, den Ton selbst zu vernehmen, das, was physisch messbar als Schallereignis oder Geräusch das Ohr erreicht. Der Ton soll auch tief im Innern der Seele nachhallen.
Der Rambam (Rabbi Moshe Ben Maimon) schreibt, dass es ein göttliches Gebot ist, das Schofar an Rosch Haschana erklingen zu lassen. Insofern bräuchte es dafür eigentlich auch keine weitere Erklärung, die dies verständlich macht.
Dennoch erläutert er in Hilchot Hatschuwa (3,4), welche Reaktion der Schofarton auslösen sollte: «Erwacht, ihr Schläfer, aus eurem Schlummer, und die, die dösen, erwacht aus eurer Lethargie. Denkt über eure Taten nach, bereut eure Sünden und gedenkt eures Schöpfers. Seid nicht jene, die mit der Zeit die Wahrheit vergessen und die ihre Jahre verschwenden, um Eitelkeit und Torheit nachzujagen, die nutzlos sind, euch nicht erlösen können. Schaut in eure Seelen, verbessert eure Wege und Taten.» Maimonides fordert dazu auf, sich seiner Taten bewusst zu werden und Teschuwa zu tun.
Teschuwa wird häufig mit «Buße» übersetzt. Doch die eigentliche Bedeutung des Wortes ist «Rückkehr». Es geht um die Rückkehr zum Pfad der Ethik und Spiritualität, wie er von der Tora vorgegeben ist. Es ist, so Rabbiner Shraga Simmons, die Teschuwa, die dazu führt, sich des Schöpfers zu erinnern.
Der Prophet Yechezkel (33,5) warnt recht eindrücklich, was demjenigen droht, der dem Ruf des Schofars nicht folgt: «Den Posaunenschall hat er gehört, er hat sich aber nicht verwarnen lassen, sein Blut kommt über ihn; hätte er sich warnen lassen, er würde sein Leben gerettet haben.»
Furcht Der Prophet Amos (3,6) kann sich kaum vorstellen, dass man beim Ton des Schofars nicht von einem Gefühl der Beklemmung und Furcht erfüllt wird: «Wird in die Posaune gestoßen in der Stadt, und das Volk sollte nicht erschrecken?»
Auch der Talmudgelehrte Rabbiner Saadyah Gaon nannte das Schofar ein Mittel der Verkündigung und der Warnung: «Es ist, als ob wir ankündigen, dass diejenigen, die sich dafür entschieden haben, zu bereuen, es jetzt tun sollen. Und diejenigen, die sich entschieden haben, es nicht zu tun, sollen später nicht kommen und sich über ihr Schicksal beklagen.» Dies sei die Art und Weise, wie die Könige ihre Herrschaft ausüben und ihre Dekrete von Trompetenstößen ankündigen lassen.
Rabbiner Eliyahu Kitov zitiert in seinem Buch The Book of Our Heritage Rabbiner Yitzchak Aramah, der in seinem Menorat Hamaor das Ganze noch mit einem Bild beschreibt: «Dabei gilt es zu realisieren, dass an diesem Tag des Gerichts alle Geschöpfe den Thron G’ttes passieren, wie Schafe daran vorbeiziehen, und Er diese in Augenschein nimmt und dann entscheidet, welches sterben und welches weiterleben soll.»
teschuwa Und das Widderhorn soll als Symbol daran erinnern, dass auch wir Menschen mit all unseren Taten beurteilt werden. Niemand wisse, wer leben und wer sterben soll. Das Schofar rufe in diesem Moment auch zur Umkehr zu G’tt auf, zur Teschuwa, mit der dann die Gnade am Tag des Gerichts erhofft wird.
Der eingangs erwähnte Rabbiner Shraga Simmons verweist dabei auf den talmudischen Satz, der besagt, dass es keines Urteils «von oben» bedarf, wenn es schon eine Beurteilung «von unten» gibt. Das bedeute, so Simmons, dass G’tt zur Selbstreflexion veranlassen möchte.
Der Mensch sollte selbst erkennen, wann er auf falschem Kurs war, nicht richtig gehandelt hat, vom Weg der Tora abgewichen ist. Wenn er sich im Laufe des Jahres immer wieder einmal diese Fragen stellt, wird ihn am Ende der Weckruf des Schofarhorns, der Truah-Ton, nicht erst aus dem spirituellen Schlummer aufschrecken müssen, so Simmons.